Saturday, May 07, 2005

Wassili

Wassili

Wassili drehte sich einmal um die eigene Achse, nickte Olga zu und trat durch den 150 Jahre alten Rundbogen des Biedermeierdurchhauses. Sein Arsch steckte in hautengen, kasachischen Schweinslederhosen. Olgas Mittelfinger klebte an Wassilis Steißbeinfortsatz.
Sie folgte ihm eine halbe Armlänge hinterher. Nach fünfzig Metern blieben beide stehen. Olgas zinnoberrotes Haar mäanderte über die blütenweissen Schulterblätter während ihre langen Finger nun über Wassilis Rückgrad gespannt nach oben krabbelten. Wirbel für Wirbel erklommen sie Wassili,dessen Augen wie Suchscheinwerfer über den Innenhofplatz wanderten. Drei Cafeterias hatten mehrere Dutzend Stühle draussen. Alle brechend voll mit Bohemiens, Adabeis und touristischer Laufkundschaft. Es war Mitte Juli und das Thermometer zeigte 112 Grad Fahrenheit im Schatten.

Wassili versuchte unscheinbar zu wirken.

Sie hatten damals zwei Wildschweineber verarbeiten müssen um genügend Leder über Wassilis Arschbacken spannen zu können. Im Alter von 15 Jahren war er in der Lage mit blossen Armen einem Ziegenbock das Genick zu brechen. Ein Jahr später holte er sich den kasachischenTitel im Schwergewichtsringen und hörte erst 4 Jahre danach zu wachsen auf. Da mass er vom Scheitel zur Sohle 2 Meter und 8 Zentimeter und wog 130 Kilorgramm. Ein paar Pfunde sind seither dazu gekommen. Wiewohl Wassili fit war wie ein in den Boxen schnaubender kasachischer Kampfbulle.

Also Wassili versuchte unscheinbar zu wirken.

Trotzdem hafteteten mitlerweile 45 Augenpaare wie Superkleber an ihm. Was in etwa der augenblicklichen Gesamtpopulation des Innenhofes entsprach. Langsam schob Wassili die Hand unter den Revers seines Gucci XXL Sakkos. Limitierte Spezialanfertigung. Seine Sonnenbrillen fixierten die Eingangstüre einer Trattoria die auf florentinische Weine spezialisiert war. Olga blickte an Wassilis rechter Schulter vorbei und fokusierte den
pinguinfarbenen Oberkellner des kleinen Cafes schräg gegenüber. Ihr Leopardenstringshirt steckte straff in der blutroten Kunstlederhose, aus deren Schläuchen 13 cm lange schwarze Lackabsätze wucherten.

Das einzige was sich augenblicklich bewegte war eine fettgefressene Taube die versuchte einen buttergetränkten Croissantkrümmel aus einer Kopfsteinpflasterritze zu fischen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen kippte sie vornüber, erbrach und blieb liegen.


”Ich habe etwas”, flüsterte Wassili ohne den Blick vom Trattoriaeingang zu nehmen.
”Was meinst du?” hauchte Olga zurück. Sie höhlte den Rücken und drückte etwas irrritiert ihre Handteller an die unteren Lendenwirbel.







*




Olga strich sich etwas irritiert mit den grünen Fingernagelspitzen durchs Haar, bemüht, den Blick indifferent streunend zu halten.

”Du hast ... WAS ?”

”Ich habe etwas”, sprach Wasili, gläsern in die entgegen gesetzte Richtung schauend.

”Wasili”, hauchte Olga, ”WO bist du ??”

”Ich bin hier, inmitten dieses Innenhofs, ich heisse Wasili und ich HABE etwas”

Wasili entschlüpfte -ganz abrupt und ohne Vorwarnung - seinem raubkatzenähnlichen Muskeltonus und federte mit gerunzelter Stirn an den ersten freien Tisch um sich in kryptischer Entrückung auf einem Thonetimitat zu platzieren. Er schnippte nach einem kleinen Mocca.. Olga blieb zurück als eine extravagante Version der Frau Lot, unfähig eine Homo Sapiens würdige Handlung zu setzen. Die Luft war zum Schneiden dick und mächtige Lagunen aus Achselschweiß tropften apathisch auf die glühenden Pflastersteine.
Wasili streckte die Beine, zog seine Mudwinkel in die Breite, ballte die Finger zur Faust und liess ein kasachischen Fluch folgen.

Dann herrschte betretenes Schweigen.
Allgemein.

”Ich HABE etwas, aber ich BIN nichts” sagte Wasili schließlich , während der Kellner vorsichtig den Kaffee am Tisch plazierte, Wasili kurz in die Augen blickte, innerhalb von Sekundenbruchteilen erbleichte und mit unerhört raumgreifenden Scherenschritten das Weite suchte.
Mitlerweile stand Olga vor ihm, noch immer stumm wie ein Fisch, doch immerhin. Sie spielte mit ihren Fingernägeln und schien einen Zuckerstreuer zu fixieren, der lieblos und verkrustet in der Tischmitte stand. Im gesamten Innenhof war es jetzt so leise, dass ein sich hinter dem Ohr kratzender Hund nur knapp an einem Lärmerregungsmandat vorbeigeschrammt wäre.

Olga verharrte so eine gute Minute. Das Kunstleder klebte wie Harz an ihren Schenkeln.Sie nahm die Sonnenbrillen herunter, putzte sie hektisch mit dem String-Shirt, setzte sie wieder auf. Das mehrmals hintereinander. Dann begann sie tief und gleichmässig zu atmen. Ganz tief und ganz gleichmäßig. Immer tiefer - immer gleichmäßiger. Als sie den gleichzeitig tiefsten und gleichmässigsten Punkt erreicht hatte, hielt sie den Atem an.

Olga drehte sich langsam zu Wasili. Ihre Pupillen waren nicht größer als Stecknadelköpfe und wer genau hinschaute sah ein hauchdünnes Zucken im Unterkiefer.

”DUU-hast-unsere-Tarnung-auffliegen-lassen” brüllte sie geradezu erruptiv.

Dass schaudernde Echo hüpfte mehrmals über die Innenhofwände und alle 45 zuckten synchron zusammen. Es war ungeheuer schwierig, denn jede nicht konformistische Handlung schien hier und jetzt unmöglich. Zum Beispiel aufstehen und gehen.


Wasili lehnte sanft und bestimmt in dem Thonetimitat, ohne Olga in die Augen zu sehen. Er griff wieder in die Sakkotasche und holte ein handtellergrosses Gerät heraus. Es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Fernsteuerungen von Spielzeugautos. Wasili lächelte jetzt. Seine Unterarme lehnten entspannt auf den Oberschenkeln. In den Fingern lag verspielt das Gerät.

”Wir hatten nie eine Tarnung.” sagte er.


*


72 Sekunden später spuckte eine gewaltige Druckwelle eine komplete Sitzeckbank, mehrere Fischernetze, ein halbes dutzend rote Barstühle, eine Bierzapfanlage, dreiQuadratmeter Spiegelwandbruch, einige eher dunkelgekleidete Menschen und dergleichen in den Innenhof unseres Durchhauses.
Sie erinnern sich an die Trattoria die auf florentinische Weine spezialisiert war?

Nun war der Bann gebrochen. Konformismus hin oder her. Die Menschen strömten in Scharen in alle Richtungen. Also einige zumindest. Viele lagen ja etwas irritiert, betäubt oder ramponiert in der Gegend herum.

Wassili und Olga saßen noch immer unverändert auf ihren Stühlen. Er nahm die Sonnenbrillen ab, schlüpfte aus seinem Gucci XXL lehnte sich noch weiter zurück und begann ein Liedchen zu pfeiffen. Vermutlich eine kasachische Volksweise.
Olga kratzte derweil mit den Schuhspitzen Achterschleifen auf das Kopfsteinpflaster. Sie wirkten beide höchst unbeteiligt in diesem augenblicklichen Meer voll Chaos.

Dann drehte sich Wassili zu Olga.

”Blume in der geborstenen Mauer,
Ich pflücke dich aus den Mauerritzen,
Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand
Kleine Blume - doch wenn ich verstehen könnte
Was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist
Wüsste ich, was Gott und Mensch ist”

”Kennst du das? Es ist von einem Engländer namens Tennyson. 19 Jhdt.”
Olga schüttelte nur den Kopf und kratzte weiter Achterschleifen.

”Und das ?
Wenn ich aufmerksam schaue.
Seh´ich die Nazuna
An der Hecke blühn.”

”Japaner namens Haiku. 17 Jhdt glaub ich.”
”Schön” sagte jetzt Olga. ”Du kennst schöne Gedichte”
”Es sind die einzigen zwei die ich kenne.”

”Ah !”

”Aber das erste gefällt mir nicht. Weil der Typ die Pflanze mit den Wurzeln ausgerissen hat. Dieses vereinnahmed gierige Schwein. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach einem zweiten Gedicht mit einer Blume. Aber einem, in dem die Blume überlebt”


”Oh !”


Ein Versicherungsvertreter mit stark versengtem Haupthaar kroch etwas verstört auf allen Vieren an ihnen vorbei, wobei er mehrere zerknüllte A 4 Zettel zu umklammern versuchte.
Er schien irgendeinem archaischen Versicherungsvertreter-Urinstinkt zu folgen der in etwa folgendes beinhaltete: was auch immer geschehen mag, sammle danach die bereits unterzeichneten Polizzen ein,ansonsten kann sich das negativ auf deinen Multiplikator auswirken.

Wassili krallte seine Finger sanft in das versengte Versicherungsvertreterhaar
und zog die bleiche und etwas zerkratzte Visage ganz nahe an Olga heran, so dass sie sie aus einer Handtellerlänge begutachten konnte


”Er z. B. mag Tennyson” sagte Wassili.


”Ach Ja?”


Wassili lächelte wissend, seufzte tief und brach ihm mit einer seeligmachenden Bestimmtheit das Genickn..


*


Aus der Ferne war eine wüste Ansammlung von Folgetonhörnern zu hören.Olga deutete etwas gelangweilt auf die Uhr.

Wassili erhob sich, zentrierte ein letztes mal seine 2.08 Meter im Innenhof, nickte zufrieden und folgte Olga über die Treppen hinab, die ans andere Ende des Durchhauses führten..

”Eigentlich brauch ich gar nichts zu HABEN um Mensch zu SEIN. Irgendwie hab ich das Gefühl, ich sollte mich in Zukunft um völlig andere Dinge kümmern. Immer nur Sprengsätze und all das Zeug, das durch die Luft fliegt. Ist ja völlig bescheuert. Vielleicht sollte ich mal einige Monate fischen gehen. Habe gehört das soll beruhigen und die Identität stärken.”

”Fischen? Meinst du?”

Olga blieb vor einem Bistrofenster stehen. Das Lokal war natürlich leer, nur das Besitzerduo stand hinter der Bar. Beide telefonierten aufgeregt und deuteten hektisch auf geborstenes und zersplittertes Inventar. Sie stieg durch das glaslose Fenster und blieb direkt vor ihnen stehen.
Tschuk - Tschuk.
Zwei dumpfe Knaller später kasm Olga beim Eingang wieder raus. Mit einer Flasche Bacardi unter Arm.
Sie deutete mit dem Daumen über ihre Schultern nach hinten.

”Fans von Tennyson”

”Oh !”, meinte Wassili und nickte verständnisvoll.



* * *

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