Tuesday, August 02, 2011

Wulf

Wulf





Wulf stand fest, ohne mit den Augen zu zwinkern.
Wulf kannte sein Spiel.
Langsam und behutsam legte er sein Rückgrad frei, nahm es heraus und warf
es in hohem Bogen weg.
Jetzt war er frei.
Er schritt geradewegs auf
Häuptling Brauner Stinkmorchel zu.

Häuptling Brauner Stinkmorchel erwartete ihn in vollem Harnisch an der
Spitze des weissen Berges. Um ihn herum scharten sich seine Anhänger. Sie
trugen schwarze, wikingerartige Stahlhelme, braungrüne Uniformen und ihre
Gesichter hingen nach unten, als hätte jemand strategisch wichtige
Mimiknervenstränge durchgeschnitten. Zuweilen sangen sie ein Lied und
schütteten sich dabei gegenseitig literweise Schnaps & Bier über die
Helme. Als Wulf sie alle in ihrer Gesamtheit erspähte, schoss Blut in
seine Eichel.
Die Sonne stand schon sehr tief an diesem Mittwintertag. Die Farben
begannen sich zu verabschieden und wichen grautönig frostiger Kälte.
Brauner Stinkmorchel streckte die Rechte stramm zum Gruss. Etwas zögerlich
erwiderte Wulf die Geste. Er war jetzt ganz allein. Selbst sein Rückgrad
hatte ihn verlassen. Wulf blickte nach oben. Er war nicht sehr gross.
Vielleicht ein Meter achtundfünfzig.

Dann liess Wulf seine Hand in die von Brauner Stinkmorchel fallen. Brauner
Stinkmorchel schüttelte sie grob und deftig. Er lachte dabei gröhlend.
Seine Anhänger folgten ihm wie eine Horde Bisons und nutzten die
Gelegenheit, sich Bier und Schnaps über die Stahlhelme zu giessen. Dazu
sangen sie folkloristische Lieder.
"Du siehst Wulf", erhob Brauner Stinkmorchel das Wort, "meine Leute stehen
hinter mir wie EIN Mann.!" Wulf, einst Vertreter der Kleinhändler, dann
der mittleren Händler und jetzt der Grosshändler, nickte stumm.
"Aber deine Leute" fuhr Stinkmorchel fort, " sind voll Gier und
Selbstsucht.
Ein Haufen machtgeiler Frömmler in angewichsten Unterhosen. Dir fehlt ein
Volk, das bereit ist zu bluten."

Brauner Stinkmorchel klatschte in die Hände und grinste Wulf ins Gesicht.

"So what, Wulf !?"

Wulf wischte sich konzetriert über seine Brillenallergikerränder, senkte
den Blick und sprach: “Du bist der Wotan der niederen Triebe.Der Herrscher
über Dumpfheit und Fäuste. Ein Tribun der angstbeissenden Volksseele. Dir
gilt mein grosser Respekt."
"Schön gesprochen", grunzte Brauner Stinmorchel sichtlich geschmeichelt
und liess einen Krug Hopfengebräu die Kehle hinunterrinnen.
"Und wie du so recht gesagt hast, Brauner Stinkmorchel: mir gehören die
Potentaten in angewichsten Unterhosen. Ihr Führer heisst Globolus Maximus
und ist ständig auf der suche nach VOLK. Er lässt gerade eine neue Münze
prägen, um noch aggressiver und mächtiger Handel treiben zu können. Damit
will er seine edelsteinernen Paläste vervielfachen. Für sich und seine
Potentatenkaste.
Dazu braucht er Unmengen Lakaien und einen dienstbaren Stab von
Untertanen, die ihr Blut für diese Münze geben. Ansonsten wäre sie nichts
wert, so sagt er."

"Har, har, har"- röchelte Brauner Stinkmorchel und schlug sich auf die
Schenkel.
Es war nun stockfinster geworden. Nur wenige Fackeln erhellten den weissen
Berg. Stinkmorchels Anhänger schütteten sich weiterhin vergorene Säfte
überdie Helme und in die Kehle während ihr Führer offensichtlich
elementaresverhandelte.

Wulf streckt jetzt beide Handteller nach oben und blickte Brauner
Stinkmorchel das erste mal in die Augen, wobei seinem Mundwinkel ein
Sabbertropfen entwich.
"Und wenn du, also wir, ihm genügend willfähriges VOLK liefern, so
verspricht er uns Ländereien und Positionen von höchstem Einfluss. Nur
sind meine Potentaten für diese Zwecke ungeeignet. Sie werden nichts geben
für die Münze, da sie selbst Paläste wollen. Und mein frömmlerisches
Fussvolk ist nicht genug an der Zahl, um Globolus Maximus zufrieden zu
stellen. Doch wenn wir uns zusammen tun ..." - Wulf hob verführerisch die
Stimme - "dann , mein kleiner Prinz ..." - grunzte Braune Stinkmorchel und
liess seine derbe Pranke auf Wulfs zarte Schulterblätter krachen " ...
stehst du endlich
ganz oben und kannst dir einen runterholen - har har har. ..."

Stinkmorchel grunzbrüllte so laut dass seine Anhänger extatisch mit
einstimmten, sich auf die Stahlhelme schlugen und eine gehörige
Extraportion über die Schädel gossen.

"Aber ..." - und jetzt wurde Stinkmorchel bedrohlich ernst und zischelte
wie eine Schlange in Wulfs Ohr ".. das kostet. Und ausserdem muss ich mir
eine neue Geschichte ausdenken. Denn soviel Blut haben die noch nie
gespendet."

Und Wulf wakelte mit blutgefüllter Eichel neben Brauner Stinkmorchel den
weissen Berg hinab.
"Vielleicht", wisperte er zaghaft, "erzählst du Ihnen, sie wären lange
Jahre rücksichtslose Prasser gewesen und müssten das jetzt alles wieder
gut machen?"

"Har har har" - gröhlte Brauner Stinkmorchel und liess seine Wurstfinger
zwischen Wulfs Schulterblätter donnern.
Dahin, wo kein Rückgrad mehr war.

°°°°°°°°°°
Aus der Sammlung “Nulldefizit” | http://www.nulldefizit.com/

Eine Anthologie, herausgegeben von Mike Markart und Wolfgang Pollanz
ISBN 3-900965-22-6 | Erscheint im Herbst 2001

edition kürbis | http://www.kuerbis.at/

Bitte achten Sie die Urheberrechte!

Wednesday, May 26, 2010

prinz

prinz

Der Prinz und sein Pferd bildeten eine normative Einheit.
Sie bewegten sich schleppend.
Immer entlang der horizontalen Schnittstelle.
Immer schön von Ost nach West.

Langsam sanken die Schneeflocken im Vordergrund zu Boden.
Ohne zu tanzen.
Fette, große, nasse Teile.

Der Prinz ritt durch einen späten Februar.
Durch die Mitte Europas.
Und es kam ihm vor, als hätte er seit
4 Monaten nichts als gefroren, immer und überall
tagein, tagaus, in allen bizarren
Varianten, die ein abgedrehter
Woodoo-Kobold in einem giftgalligen Bös-
artigkeitsschub ausgebrütet haben mochte.

Meist nasse, manchmal trockene, immerzu windige
Kälteglocken hatten sich über ihn gestülpt.

Seit Monaten steckte er in einem
schweren Ziegenledermantel, eine dunkle Kapuze verschluckte seinen Kopf, purpurrote Lederstiefel klebten an
den dünnen Waden und seinen Unterhosenoverall
hatte er zu Weihnachten das letzte mal gewechselt.

Seine Gelenke knirschten und schepperten
vor Kälte
und die Lippen waren so taubblau davon,
daß sie sich anfühlten, wie tiefgekühlte Styroporteile.

Sogar der Sabber schien daran festzufrieren.

Manchmal hechelte er fatalistisch, warf die Arme wie Flügel seitwärts und krächzte wirres Zeug. Was er hervorwürgte war dissonant, deprimierend und verpuffte letztlich inhaltsleer in der Landschaft.

Krähen saßen auf verschneiten Ästen und hatten ein gewisses Auge auf ihn geworfen.

Der Prinz erreichte eine Weggabelung. Das Ross hielt inne.


Was er sah, aus seiner Kapuze heraus und durch den Schneekristallnebel hindurch, war waldige Hügellandschaft, Felder zuweilen. Alles schmutzweiß und diffus, praktisch ohne Konturen.

Er befand sich inmitten einer Vasallenkultur von Schweinezüchtern.

Verschlagene, feindselige Charaktere mit hoher Karies- und Denunziationsrate.
Zuweilen waren sie mit Heugabeln und Spießen hinter ihm hergewesen.

Die Schneeflocken begannen sich merklich zu einem Gestöber auszuwachsen.
Wind kam auf.
Es wurde kälter.
Dann fernes, sonderbares Grollen.

Im Winter grollte der Donner etwas gedämpft.
Das machte ihn subversiver.


Der Prinz kickte seine Purpurstiefel mit mäßiger Zuversicht in den Unterbauch des Rosses und
wählte den Weg links weiter den Bergrücken hoch.

Das Schneegestöber verdichtete sich zunehmend.
Das Donnergrollen klang jetzt wie ein dumpf verzerrtes Gitarrenriff von Stevie Ray Vaughn.

Höher hinauf wollte er.
Am liebsten den Flocken entgegen, durch sie hindurch.
Immer weiter bis an deren Anfang und über ihn hinaus.
Zu einem neuen Ende, einem neuen Anfang.
Der Zyklus würde unendlich sein, sich über alle Maße beschleunigen und ihn schließlich durch
die Atmosphäre und die Erdumlaufbahn hindurch in den Weltraum schießen.
Bis zum Anfang aller Dinge, wo er, der Prinz, als unbewegter Beweger
im raumzeitlichen Nirwana aufgehen würde.

Ja.

Der Prinz trickste sich augenblicklich in ein emotionales Vorstellungshoch.
Ein durch Sehnsuchtsvisualisierung ausgelöster, euphorisierter Zustand, der bis zu
einer halben Stunde anhalten konnte.

Er trieb seinen Gaul schneller nach oben.
Die Flamingobeine des Rosses klapperten mühselig hangwärts, die Hufe
fuhren zittrig in den schneegedämften frostigen Boden.
Die pupurnen Prinzenstiefel schienen direkt in die Brustrippen
des Pferdes überzugehen.
Oder umgekehrt.

Fast erweckte es den Anschein als würde sein Hintern sich ein wenig aus dem Sattel heben
und seine Füße Gewicht in die Steigbügel legen.

Oben, pochte es im Prinzenkopf.
Er wollte NACH OBEN.
Und FRÜHER.
FRÜHER wollte er auch.

FRÜHER und NACH OBEN

Da aber FRÜHER und NACH OBEN unselig miteinander
verknüpft waren, bekam mensch immer nur beide oder
das Gegenteil davon.

Er bekam also nicht das eine oder das andere, etwas oder gar nichts.
Sondern etwas oder das Gegenteil von etwas.


Und das Gegenteil von etwas entpuppte sich immer als viel schlimmer als gar nichts.
In diesem Fall in Form einer gewaltigen Portion Stoßstroms, die sich unter des Prinzen Sattel entlud.

Es wird erzählt, dass Blitze, die sich auf der Erde
entladen, bis zu 10 km zurücklegen.
Und das in beachtlichem Tempo.
In etwa 30 Tausendeln einer Sekunde jagen sie
von der Unterseite eines kilometerhohen Wolkenturms
durch ein 100 Milionen Volt Habitat.
Immer auf der Suche nach Entspannung.

Und dieser fand sie in einem galoppierenden Pferdearsch.
Einen galoppimmitierenden, um genau zu sein.

Als alles vorbei war, bzw. von vorne begann, je nachdem, war der
Himmel bei Gott nicht voller Geigen. Es waren vielmehr Chellos,
die sanfte Bassläufe in Moll spielten.
Über sie hinweg tanzten Cembalos.
Zwischen Rauchschwaden wirbelten Schneeflocken hindurch und
der Unterhosenoverall hatte sich von den Arschbacken des
Prinzen gelöst.

Es war unglaublich, aber der Prinz stand inmitten dieses
bizarren Schauspiels barfuss und auf beiden Beinen im Schnee.
Verkohlte Teile seines Ziegenledermantels hingen wüst
dampfend von den Schultern, seine Haarwurzeln glosten im Rythmus der
Chellobassläufe und seine Schamhaare waren zu ein paar verrußten Spiralleichen
verkommen.

Eine frittierte Krähe lag zu seinen Füßen.

Der Prinz hatte seine Fäuste zur Deckung hoch gezogen.

Schlug fallweise Uppercuts, gerade Linke, gerade Rechte.


STILL. IN. THE. RACE.

dachte der Prinz.




+ + +

Saturday, March 14, 2009

14

14


Phantastisch mutet es an.
Aus Kohlenstoff zu wachsen.
Stoff der Kohle.
Wahnsinn pur.
Also sprach ich.
Tagelang.

Mit jeder sprach ich
Und jedem auch.
Ohne zu schlafen, ohne zu essen.
Kämpfte ich mich vor.
Arschbacke für Arschbacke
Kohlenstoff, schrie ich.

Kohlenstoff!

Händeringend.
Unverdrossen.

Schließlich kam Josefine (Dschos´fin´)

Sie sprach nichts.
Keine Silbe.
Mit ihrem Mund.
Spuckte sie.
Wie ein Lama.
Genau.
Zwischen meine Augen.

Triefender Auswurf.

Ich rang nach Worten, suchte Silben.
Meine Stimmbänder versagten.
Plötzlich.

Nasskalter Schweiss.
Inkontinenz.
New Orleans.

Rückwärtsstolpernd stahl ich mich davon.

Richtung Toilette.

Ganz schnell.

Ich lehnte an der Pissmuschel.
Vor mir eine Kachel.
Fut was here.
Stand da.

Links und rechts zogen aschfahle Typen Kokain.
Glasige Pupillen reckten sich aus schmierigen Spiegeln.

Aus Kohlenstoff gewachsen.
Shame of the carbon.
Dachte ich.

Schande.

Ich stampfte, ich brüllte -
No Coke - No Amphetamins !
Haha.

Honey. Bunny. sagten sie.
Und Bussy Bussy. Butato Butato.

Die Tür fiel ins Schloss.
Grinsend.
Von außen.

Wasser lief über mein Gesicht.
Minutenlang.

Ich drückte meine Faust in das Spiegelglas.
Zweimal. Dreimal.

Splitter knirschten zwischen Schuhsohlen und Bodenfliesen.
Urinfarbene, rotstichige Lichtpartikel.
Überall.

Ich trat die Tür auf.

Fratzen.
Distinktlos beschmiert.
Dumme, große Augen -
zerbissene Lippen.

Ich steuerte nach links, nach rechts.
Suchte freien Raum.

Fand eine Bar.
Im Foyer.
Sprang auf sie.
Sporen, Zügel, Wind Freiheit.
Kopf in den Nacken.

Abflug.

Ein Orang Utang begann auf mich zu feuern.

Großer Affe.

Großer.

Ein Querschläger erwischte mich am Brustbein.
Tiefer Fall.
Ich bekam keine Luft.
Der Affe brüllte mich an.
Sein Magazin war leer.
Er schrie wie von Sinnen.

Ich öffnete den Mund.
Schloß ihn wieder.
Wie ein Fisch.
Mehrmals.

Leute kreischten-
Leute urinierten.
Leute rannten.
Leute lagen flach am Boden.

Ein Teil des Knochens war gesplittert.
Blutig wie ein Schlachtschwein,
zog ich mich hoch an der Bar .
Riss eine Flasche aus der Virtrine,
nahm einen tiefen Zug.
Zerschlug sie am Tresen.

Das wars.
Game over.
Rattenpack.

Ich taumelte.
Stand klapprig.
Spuckte roten Saft.
Noch ein Schub.



Mista.
Stay.
Don´t moove.


Der Orang Utang wich zurück.

Kohlenstofffaschist !
- schrie ich.
Du dreckiger Kohlenstofffaschist.
Du miese Kohlenstoffsau, -
lässt dich in den Arsch ficken.
Für ein paar Silberlinge.

Shame of the carbon.

Einzeller.

Meine Knie gaben nach.
Wie spät es wohl war?

Aus Kohlenstoff gewachsen, dachte ich.

Stoff der Kohle.

Ein Wimmern von hinten.

Mista Please.

Dann war es still

Beinahe.


* * *

Wednesday, July 05, 2006

madagaskar






M a d a g a s k a r


Schicht für Schicht löste sich die Schale seines Selbstbildes wie eine Schlangenhaut.
Am Anfang spürte er Leichtigkeit, begann zu hüpfen und zu springen. Nach
einer Weile des Hüpfens und Springens blickte er um sich und stellte fest,
dass sich die Welt zu entfernen begann.

Nicht, dass er allzusehr an ihr gehangen wäre. Aber dass sie nun so
gleichmäßig von ihm wegzudriften schien empfand er doch etwas billig.
Anfangs zupfte er noch vermeintlich spielerisch an dem einen oder anderen
Ende. Doch er mußte feststellen, selbst als er sich mit aller Kraft
dagegen stemmte: da war nichts aufzuhalten. Die Drift entpuppte sich als
linear und unaufhaltsam - und er selbst verblasste langsam am Horizont.
Oder sie, die Welt.
Je nach dem, welchen Standpunkt man einnahm.

Zurück behalten hatte er nicht viel. Ein paar Klamotten aus den letzten
Jahren, einige anachronistische Kartons mit noch anachronistischeren
Büchern die er glaubte irgendwann mal gelesen zu haben (sicher war er
nicht mehr) - und zwei verstaubte Ordner mit Dokumenten die
offensichtlich - bei Bedarf - seine Existenz legitimieren sollten.

Die Dokumente bestätigten offenbar seine Vergangenheit. Da hatte er dies
getan und einige Jahre später jenes. Keine großen Dinge. Nur Zeugs zur
Alltagsbewältigung. Alte Flugtickets über Reisen an die er sich nicht
mehr zu erinnern vermochte. Mietverträge von Orten an denen er
möglicherweise gewohnt hatte. Photos aus früheren, mehr oder weniger
intensiven Beziehungen deren Motivation oder Prozesse ihm völlig
schleierhaft und absurd vorkamen. Notizen, Aufzeichnungen und
Kurzgeschichten die er fallweise und launisch zu Papier gebracht hatte.
Alles völlig zusammenhanglos und zu nichts Größerem gewachsen.
Wenn das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile sein sollte so war es
bei ihm umgekehrt: Summa summarum wirkte sein existenzielles Ganzes
schmächtiger als sein kleinster Teil.

Lange Zeit beobachtete er nur. Das, was wegdriftete, war ja nichts von
Bedeutung. Ein inhalts- und kontextloses Sammelsurium an vergangenen
Ereignissen. Die Welt eben.
Wenn die Welt augeblicklich Indien war, so schob sie sich gerade unter das
asiatische Festland, hob das Himalayamassiv gegen Himmel, irgendwo in
weiter Ferne,während er mit einem Palmwedelblatt in der Hand impulslos am
Strand von Madagaskar herumstand.

Er hinterließ tiefe Abdrücke im salzig feuchtem Sand.
Wenn er sich ein wenig bewegte namen die Krebse sternförmnig reißaus.


In der Früh peitschte ihn das gleißende Morgenlicht aus seinen Träumen und abends
verschwand es achselzuckend, kommentarlos und dottergelb auf der gegenüberliegenden Seite.
Da war nichts zu tun. Nichts was sich anschickte getan werden zu wollen.
Sollte er eine Palme fällen, einen Einbaum schnitzen und der Welt nachrudern?
Jenem kontextlosen Sammelsurium vergangener Ereignisse, das
Gerüchten nach irgendwo
da draußen, hinterm Horizont, Maulwurfarbeiten
verrichtete?



*

Du mußt ein Urteil fällen. Aus dem Urteil wächst die Moral und aus der
Moral wiederum das Urteil. Sag nicht `man kann das nicht sagen`- denn das,
was du nicht sagen kannst, entzieht sich einer künftigen Moral. Und die
künftige Moral kann nicht zugreifen, auf das, worüber nicht geurteilt
wurde (tse tse lung, ca.480 v. Chr.)


Hätte er einen Superlativ anzubieten gehabt - er hätte die Karte sofort
gezogen: hier mein Superlativ ! er kostet 150 euro plus Mehrwertssteuer
am Tag - book it or leave it. Aber da war nichts. Und was wenn er die
150 plus Mehrwertsteuer bekommen würde? In welche Welt sollte er sie
investieren?

Er lief den Strand entlang und suchte. Geschlechtspartner, Betäubungsmittel,
Nahrung, simple Wahrheit, abstrakte Philosophie - egal, er hätte alles genommen.
Am liebsten Kokain. Mit 150 plus Mehrwertssteuer ließe sich eine respektable
Tagesration zusammenstellen. Dazu ein Tellerchen Pestonudeln und etwas Brennesseltee.
Damit könnte er seinen maroden Kadaver reanimieren und ihn würdevoll in
den Sonnenaufgang stellen. Was auch kommen sollte, er wäre bereit gewesen.
Natürlich würde nichts kommen. Die Welt war ja weg. Aber immerhin: allein
der Gedanke daran faszinierte ihn.

Geologisch betrachtet bestand Hoffnung. Madagaskar folgte dem indischen
Halbkontinent hinterher was die plattentektonische Drift betraf. Er malte
sich den Triumpf aus, wenn - in vielleicht 80 Millionen Jahren - er
Brennesseltee schlürfend am höchsten Berg der Insel sich eine Nase gönnte
und der Welt apokalyptisch berstend in den Arsch fuhr.

Die Zeit verging. Der Strandabschnitt, auf dem er sich auf und ab bewegte
blieb stoisch und unverändert. Er saß da und spielte an einer Kokosnuß
herum. Er dachte an Schicksale von Schiffsbrüchigen. Ein Schiffsbrüchiger
hatte vor allem eines: Hoffnung. Die Hoffnung manifestierte sich(oftmals),
so ihm(dem Schiffsbrüchigen) die Götter gewogen waren, in Gestalt eines
Schiffes. Wenn so ein Schiff am Horizont erschien, begann der
Schiffsbrüchige wild gestikulierend zu hüpfen, zu winken, und zu schreien.
Dann rannte er auf die nächste Erhöhung und entfachte ein Feuerchen,
produzierte so viel als möglich Rauch. Er hüpfte und winkte weiterhin,
rannte möglicherweise wieder hinunter zum Strand, brüllte und
gestikulierte und - ja - hoffte eben, dass der Kutter beidrehte und seinem
Leben eine günstige Wendung bescherte.

Aber die Hoffnung stand auch nur im Verhältnis zu einer existenten Welt,
wo das Erhoffte sich erfüllen konnte oder wo das
Erhoffte jenseits dieser Welt lag. In einem spirituellen Nirvana, in
ewigen Jagdgründen oder monotheistischen Paradisen - ja nach
Glaubensrichtung. Aber entstehen konnte die Hoffnung nur im Gehirn
eines höher entwickelten Säugetiers, dass in einer Welt wohnte, die dieses
Gehirn fütterte.
So gesehen hatte er es gut: keine Welt, keine Hoffnung, keine Ozeandampfer
auf die er warten mußte. Wahrscheinlich nicht mal auf den großen crash in
80 millionen Jahren.

Na ja, vielleicht auf den.

Er legte sich auf den Rücken, streckte Arme und Beine weit von sich, legte
die Kokosnuß auf seinen Bauchnabel und war froh keine Hoffnung zu haben,
die er fahren lassen sollte.

Dort wo er war, vermochte ihn niemand mehr zu drohen, niemand mehr zu
loben, niemand mehr zu trösten, zu umarmen, zu ingnorieren, zu schlagen,
zu belügen. Niemand mehr würde ihn lieben und niemand mehr hassen. Hier
gab es weder Fortpflanzungs- noch Kastrationsprobleme. Keine Faschisten,
keine klerikalen Heuchler, keine kulturlosen Kanonenboot Gorillas die die
Welt beherrschten, keine Hasspredigiger die massenmedial gesteuerte
Kleinbürger auf Lehmhüttenbewohner hetzten, keine sklavenhaltenden
Megakonzerne die sich weigerten Steuern zu zahlen, kein Volk, das es
vorzog sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen anstatt die machtgeilen,
fettgefressenen Bonzen aus ihren Elfenbeintürmen zu jagen, keine sonoren
Oligarchenfratzen die schamlos aus ihren Panzerlimousinen herauslogen.

Alles war verschwunden. Weg, einfach weg.


Nur ein wenig Sehnsucht war geblieben die ihn fallweise irritierte. Eine
unspezifische Sehnsucht. Ein Kribbeln im Magen, immer dann, wenn er den
Strand auf und ab lief und suchte. Es kam schubweise, so ein- bis zweimal
täglich, Manchmal auch einen ganzen Tag lang gar nicht.
Die Welt hatte ihn verlassen. Das mochte problematisch sein und er nahm es
ihr auch noch immer übel, daß sie sich einfach so kommentarlos geschlichen
hatte. Aber mit ihr war auch alles gegangen, daß dieser Welt anhaftete.

*

Tage und Wochen vergingen. Kurzwellig gleißendes Licht löste langwelliges
Licht und dieses wieder das kurzwellige ab. Wahrscheinlich vergingen
Monate, mglw. auch Jahre. Er war sich nicht mehr sicher. Die Kokosnuss lag
noch immer im Sand, manchmal auf seinem Bauchnabel, dann wieder im Sand.

Die wenigen Ordner und Kartons waren verschwunden. Wahrscheinlich
vermodert, vom Salz zerfressen oder ins Meer gespült.

Seine Augen blinzelten wenn er in die Ferne blickte. Das Meerwasser
schimmerte und glimmerte bruchstückhaft im Sonnenlicht. Abends kamen die
Augen zur Ruhe. Es ging ganz schnell hier in diesen Breiten. Dann hörte er
mehr und spürte die kühle feuchte Luft über seinen Körper streichen.

Er wußte schon lange nicht mehr ob er schlief oder wachte. Ob er
rauschhafte Schübe durchlebte oder alltägliche Handlungen verrichtete.
Obwohl er natürlich keine Vorstellung mehr davon hatte wie alltägliche
Handlungen auszusehen hätten war ihm klar, daß er sie wohl nicht
verrichtete. Sie waren eine Metapher für Realität. Für eine greifbare,
existentiell fundierte plakative Wirklichkeit.

Mit einfachen Dingen wie Essen und Trinken. Oder russischem Roulett.

Der Strandabschnitt verlief in beide Richtungen endlos. Zumindest endete
er nicht materiell, also geographisch, sondern mehr oder weniger im
inneren Auge des Betrachters. Er löste sich quasi auf, in einem
Sammelsurium von lichtgequälten Wasserpartikelchen.

Von Zeit zu Zeit flog eine Möwe in dieses Sammelsurium und verschwand.

Im inneren Auge natürlich.

Und dann kamen Sie.


Sie traten aus dieser gleißenden Flimmerwand aus Wasserpartikelchen in den
Panoramablick des Betrachters.

Er hob seine Kokosnuß und schaute. Er schaute lange nach links und dann
lange nach rechts.

Denn sie kamen aus der jeweils gegenüberliegenden Ecke des Küstenstreifens
langsam auf ihn zu. Sie schritten bedächtig voran. Aufrecht und voller
Würde schritten sie. Keiner der beiden blickte sich um. Sie schritten nur
voran, als wär es das letzte was sie jemals noch tun würden. Als sie
endlich stehenblieben lag nur mehr eine Fußballtorlänge zwischen ihnen.

Sie – das waren Mann und Frau.


Die Frau war groß. Vielleicht einen Meter Neunzig. Eine Hünin geradezu.
Der Mann etwa 15 cm kleiner. Mehrer Munitionsketten umschlangen seinen
narbenübersähten nackten Oberkörper und in einer Hand baumelte lässig ein
MAG 70.

Die Frau blickte einige Zeit in die Ferne, wobei sie die Schultern leicht
nach vorne und den Kopf in den Nacken fallen ließ. Sie trug beige
Leinenuntewäsche und Stiefel aus Rinderleder. Sonst nichts. Ihr rotblondes
Haar mäanderte über die Schulterblätter nach unten, bis hin zum
Bauchnabel.
Sie holte eine Flasche Brennspiritus aus ihren rechten Stiefel und ein
Feuerzeug aus dem linken, goß den Spiritus kreisförmig um sich und steckte
ihn in Brand.
Eine Feuerwand erhob sich rund um die Frau.

Der Mann betrachtete etwas verdutzt das Geschehen, trat einen Schritt
zurück und fragte schließlich mit leiser, erstickter aber
erwartungsvoller Stimme:

Don-rou-schän?


*

Es kam ihm vor, als hätte sich die Sonne, kurz nachdem sie abgetaucht war,
nicht mehr vorwärts bewegt. Die Feuerwand loderte gleichförmig vor sich
hin. Und der Typ mit dem Maschinengewehr und den vielen Patronengürteln
stand schone eine halbe Ewikgkeit im Dämmerlicht vor ihm.

Irgendwie kam ihm der Kerl bekannt vor. Er hatte eine starke Vermutung was
sein Gegenüber betraf aber er traute ihr nicht.

Das MAG 70 hing nun ruhig über der linken Schulter.
Seine Augen saßen tief ihm verrußten Gesicht. Die Augenlider hingen weit
in den Apfel hinein und schienen seitlich übermäßig abzufallen. Die
Pupille formte einen am Rücken lungernden Halbmond. Keine Muskelfaser trug
etwas zur Mimik bei.

Irgendwann hob sich sein von Brandnarben zerfurchter Handteller.
Rambo. John Rambo”, sagte der Mann und drückte einmal kräftig zu.
Dann drehte er sich wortlos um, stakste hinüber zur Feuerwand, hielt 5
Schritte davor noch einmal kurz inne, fletschte seine linke Unterlippe zu
einem Suppenteller und stürmte los. Dabei pumpte er langezogene tiefe
Röchellaute durch seinen Kehlkopf.

John Rambo hechtete mit beiden Händen voran durch die Feuermauer.


*

Er hatte es gesehen. Mit eigenen Augen. Seine Hand schmerzte noch immer
und seine Handballen waren voller Rußpartikelchen. Der Typ ist da einfach
hineingesprungen. Durch diese Feuerwand, die irgendwann plötzlich da war.

Was auch immer das hier sein sollte: es hatte nichts mit ihm zu tun. Er
war so froh darüber, dass alles andere bedeutungslos wurde.

Nichts mit ihm zu tun.

Er stapfte mehrmals um die Feuermauer. Es war nichts zu hören und nichts
zu sehen. Die Feuermauer loderte praktisch geräuschlos vor sich hin.
Zumindest geräuschloser als die Brandung. Sie war nur eine etwas okkult
wirkende Lichtquelle am nächtlichen Strand. Er setzte sich daneben und
blickte ins Meer hinaus. Alles war dunkel und düster. Nur die Gischt
zischelte rythmisch vor sich hin.

Don-rou-schän. Das klang so wie ik abe eine Koför in Börlin.

Er musste grinsen.

Dann schlief er ein.


*

Langgezogene, tiefe Röchellaute weckten ihn am nächsten Morgen.
Nachdem er zuvor meinte einen dumpfen Knall gehört zu haben.

John Rambo lag wenige Meter von der Feuermauer entfernt im Sand.
Das MAG 7O war verschwunden. Er blutete aus mehreren Rissquetschwunden.
Sein Nasenbein schien gebrochen zu sein. Das Jochbein ebenfalls.
Die linke Augenbraue war durch ein zweifingerdickes Cut aufgerissen aus dem stoßweise Blut quoll.


John Rambo blieb so eine Weile liegen. Er röchelte tief und langezogen,
verstummte kurz, verspannte seinen Körper zu einer zittrigen Masse und röchelte weiter.


Irgendwann schob er seine blutigen Finger in eine Hosentasche, holte Nadel und Zwirn heraus
und begann seine erste Rißquetschwunde am linken Oberarm zu nähen.
Die Unterlippe blähte sich dabei zu einem Teller auf, fiel wieder zusammen und formte
kleine Speichelpools während der langezogen-tiefe Röchellaut fallweise abrupt abriss
um sich gleich wieder martialisch aufzubauen.


John Rambo röchelte, blutete, und nähte seine Wunden.
Die einzige Unterbrechung waren Liegestütze auf einer Hand, die er im Dutzend
spontan herunterpumpte. Manchmal rissen dabei schon vernähte Wunden wieder auf.


Das ging Tage so. Wenn nicht Wochen.

Der Tag an dem John Rambo zu weinen begann war ein sonniger. Anfangs hatte es niemand
bemerkt. Doch als sein Weinen in ein Heulen und später dann in ein erbarmungsloses
Schluchzen überging, ist es ihm aufgefallen.


MA-AG, wimmerte John anfangs, streckte seine blutigen Hände Richtung Feuerwand,
brach zu Boden, krallte seine Finger in den Sand und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.

Später entwickelte sich daraus MAG, MAG – Doun-rou-schän - MAG, MAG.

Er saß da im Sand, die Kokosnuss zwischen den Beinen und betrachtete das Schauspiel.
Es hatte sich nicht allzuviel verändert. Der Strandstreifen, das gleißende Licht, die Gischt.
Tag und Nacht. Die Kokosnuss. Man konnte von stabilen Verhältnissen sprechen.
Angereichert durch eine kreisrunde Feuerwand und einen darniederliegenden Mann.
Aber letztendlich haben sich beide nahtlos eingefuegt.


John Rambo blutete, weinte, nähte seine Wunden, röchelte, pumpte Liegestütze auf
einer Hand, verspannte seinen Körper zu einer zittrigen Masse und blutete weiter.


Manchmal flogen Möwen tief über ihn hinweg.

Und selbst die Krebse hatten sich schon an ihn gewöhnt.

Er lehnte sich zurück und blickte gegen Himmel. Eine fette, schwarze Wolke
stand direkt über ihn. Sie war angenehm fürs Auge.

So wunderbar dunkel.

MAG, MAG – Doun-rou-schän – MAG, MAG.

*

Seit einiger Zeit hatte John Rambo aufgehört Liegestütze auf einer Hand herunterzupumpen.
Er nähte auch keine Wunden mehr. Er lag nur noch im Sand, und machte sich akkustisch
ein wenig bemerkbar. Doch auch das nahm sukzessive ab, bis er schließlich nur mehr
regungslos da lag und mit seinen am Rücken lungernden Halbmondaugen apathisch ins Meer blickte.


Er schien auch zunehmend zu schrumpfen und zu verfallen. Seine Arme wurden dünner,
sein Oberkörper verfiel langsam zu dem eines Asthmatikers und seine Hose verhüllte
immer verschämter die darunter liegenden Flamingobeine.


Als John Rambo schlussendlich massiv einem Stück Dörrobst zu gleichen begann,
wagte er sich das erste mal nahe an ihn heran. Aus einer Armlänge Enfernung erschien
der verschrumpelte Körper wie luftgetrocknet. Alles Blut und Tränen waren im Sand
versickert als wären sie niemals aus Rambos Körper ausgelaufen.
Der Boden hatte John Rambo richtiggehend ausgesaugt.


Er stubste ihn an der Schulter. Sie fühlte sich hart und ledern an.
John Rambo zeigte keine Reaktion. Er legte seine Arme unter Rambos Kniekehlen
und die Achseln und hob ihn hoch. Rambos Augen waren nur mehr einen spaltbreit geöffnet
. Ansonsten glaubte er, ein Stück Karton in den Armen zu halten.
Fallweise schloss Rambo die Augen völlig und öffnete sie unendlich langsam wieder einen spaltbreit.


Er begann mit John Rambo am Arm den Stand auf und abzugehen.
Er versuchte sich an Kinderlieder zu erinnern. Aber es fielen ihm keine ein.
Also summte er irgendeine Melodie, verlor sich in unscharfen Halbtönen
und einer erbärmlichen Rythmik. Er trug John Rambo jeden Morgen und jeden
Abend am Strand auf und ab. Und John hatte große Freude daran.
Um die zu zeigen öffnete und schloß er die Augen etwas schneller als sonst.

Nach der Abendrunde legte er ihn immer nahe an den Feuerkreis, damit er es schön warm hatte.

Doch es nützte alles nichts. John Rambo wurde weniger und weniger, schrumpelte und vertrocknete,
schrumpfte und verdörrte Und eines Morgens war John verschwunden.
Noch am abend davor hatte er ihn wie gewohnt zum Feuerkreis gelegt.
Aber John war nur mehr sehr klein gewesen, vielleicht so groß wie eine mittlere Puppe.
Möglicherweise war es Funkenflug und John hatte Feuer gefangen.

Die Nacht war stürmisch gewesen und er suchte noch stundenlang nach irgerndwelchen Spuren
aber er konnte absolut nichts mehr finden.


Der Wind hatte Johns Überreste einfach weggeblasen.

*

Ich glaube ihnen, dass sie das denken was sie sagen. Nur, würden sie etwas anders denken,
dann säßen sie nicht hier.
(Noam Chomsky)


Die Welt bot Öffentlichkeiten, wo Meinungen geäußert werden konnten.
Und sofern mensch das Richtige dachte, konnte er auf ein mehr oder weniger
großes Podium klettern und sein Denken öffentlich machen.
Im Kreise erlauchter die auch alle das Richtige dachten.


Dann saßen die Richtigdenker beieinander und besprachen alles.

Aber richtig.

Er vermisste die Kokosnuss. Möglicherweise war sie gemeinsam mit John verschwunden,
in dieser stürmischen Nacht. Oder zuvor oder danach. Jedenfalls war sie weg.


Er ließ seinen Blick entleert über die Feuermauer streichen.

Möglicherweise war er eine Form materieller Vergangenheit dieser
Welt, einfach aus ihr herausgebrochen, wie einst der Mond.

Er wußte einzig und allein was er nicht war und konnte nur vermuten was er sein mochte.
Vielleicht war die Erkenntnis dessen, was er nicht war, auch nur eine Vermutung.
Aber zumindest eine starke.


Wie er sich auch wand und krümmte – es führte offenschtlich kein Weg vorbei:

es war Zeit einen Entschluss zu fassen.

*

Im Gegensatz zur weitverbreiteten Annahme enthüllt die sorgfältige Untersuchung
einer Beobachtung vor allem die Eigenschaften des Beobachters.
(Francisco Varela)


Er stand jetzt genau dort.
Mit nichts mehr als einer wetterzerfressenen, löchrigen schwarzen Short um die Hüften.
Er konnte gerade noch den Feuerkreis herüberschimmern sehen und wenn er in die
entgegengesetzte Richtung blickte, so tat sich ein neues Sammelsurium von Wasserpartikelchen auf.

Dort, wo der Strandabschnitt im inneren Auge geendet hatte, begann er also von Neuem.

Er tat sich schwer. Stand lange Zeit da und dachte nach. Blickte abwechselnd
Richtung neuem Sammelsurium und Feuerkreis. Zeitweise umspülte die Flut
seine Fußgelenke und Krebse knabberten an seinen Zehen.


Eines Tages, als die Sonne im Zenit stand, begann er loszulaufen.

Anfangs trabte er beschaulich dahin, steigerte sich aber mit jedem Schritt und erreichte
nach kurzer Zeit ein Höllentempo. Er rannte wie er es noch nie getan hatte.
Und er rannte dorthin zurück wo er hergekommen war.


Sein Atem ging stoßweise, sein Verstand ebenfalls.
In seinen Augen spiegelte sich ein rasch anwachsender Feuerkreis.


Wenn sein Verstand eine naturhafte, zum Zweckte der Selbsterhaltung abgezweigte
psychische Kraft war, dann besaß er keinen.


Das, was stoßweise unter seiner Schädeldecke arbeitete, war viell. nur ein Instinkt.
Ein komplexes Muster von angeborenen, genetisch übertragenen Verhaltensweisen.
Oder es war gar nichts. Da war nichts innerhalb dieser Schädeldecke und
folglich auch nichts außerhalb dieser Schädeldecke.


Oder andersrum: das vom Innerhalb produzierte Außerhalb war allenfalls so jämmerlich,
dass das Innerhalb beschloss die Produktion einzustellen.


Und so hob er ab, ohne MAG und Verstand, beide Arme weit seitwärts, wie ein Albatross.

Meterhoch stand er kurz in der Luft über jener bizarren Waberlohe.

Ein kurzes Freeze, ein endloser Moment.

Dann fiel er.

Wie ein feuchter Erdklumpen.

Nach unten.



* * *























Tuesday, March 28, 2006

plazenta

Plazenta

Ahhhhhh - ahhhhhhhhhhhhh - ah-ha-hahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh !!!

*

Jahrtausendwende. Die Straße war schnurgerade und nur lokale Feinspitze warfen hie und da den einen oder anderen Blinker an, um in die flachgrüne Landschaft wegzudriften.

Muczikant Meixner beförderte am Beifahrersitz 4 Osternester mit Schokoladeosterhasen, die auf grellgrünen Ostergrasfuseln lagen. Pro Nest schmückte ein rotes Schokoosterei das heidnische Relikt.

Muczikant Meixner war es nicht vergönnt gewesen sein Ziel zu kennen. Doch unbeugbare Zuversicht ließ ihn hochkonzentriert vorwärtsgleiten. Er fuhr sich immer wieder mit Zeige- und Mittelfinger durch das fett-strähnige Haupthaar, das eigentlich nicht mehr vorhanden war. Er legte es seit Jahren fein säuberlich, Strähne für Strähne, quer über den spiegelglatten Mittelkopf. Eigentlich war es eine maßlos verlängerte Schläfenhaaransatzfrisur. Jeder Vokuhila warf das Handtuch, sobald er Auge in Auge mit einem Schläfehafu stand.

Schläfehafus waren auf eine ganz spezielle Art. einfach unerreichbar.

Muczikant Meixners Finger tasteten immerzu über die 4 Osternester, aus Sorge, dass eines verrutschen oder gar verloren gehen könnte. Ansonsten sondierten seine Sehschlitze nervös das Display jenes Handys, das unaufhörlich SMS-Botschaften empfing. Die letzte lautete: Keep going straight - medium speed.

*

Das Zimmer erschien devastiert. Überall Blut und Körpersäfte, Wasserkübel, Handtücher und schweißgebadete Akteure - zwischen entrückter Glückseeligkeit und nacktem Wahnsinn. Alles war schiefgegangen. Nun ja, beinah alles.

Onkel Johann, der Organist, ließ sein Gesicht zwischen den gichtigen Fingern ruhen und suchte nach innerer Balance. Seine Nichte war heim zum Herrn gegangen. Mit einem Lächeln auf den Lippen hatte sie sich davongestohlen und die imaginäre Sprechblase über ihrem Haupte hieß wohl irgendwas in der Art von danke, das wars. aus. tschüss. baba.

Onkel Johanns Nichte hatte einfach das Handtuch geworfen und sich für einen abrupten Fortpflanzungs- und Brutpflegestopp entschieden. 13 Jahre lang hatte sich ihr Bauch gebläht, war wieder zusammengefallen, ließ jedesmal streifenweise erschlafftes Gewebe zurück, tiefe Ringe unter den Augen und eine Dosis Lebensmüdigkeit in ihrer von Fatalismus durchzogenen Seelenlandschaft.

13 Jahre lang spielte sie eine Gebärmaschine, zwischen Befruchtung, beigebraunen Windel- und Wäschebergen, Sozial- und Fürsorgeämtern, Niederkünften, permanenten Schlafmangel inmitten mehroktavigem Kindergebrülls, Riesentöpfen weichgekochter Grundnahrungsmittel, Geschirrtürmen und sozialer Ächtung.

Jetzt war sie nur verblutet. Verunglückte Hausgeburt. Ganz schnell und unspektakulär. Eine Erholung. Vergleichsweise.

Onkel Johanns Gesicht ruhte noch immer zwischen seinen Gichtfingern. Die Hebamme lag völlig erschlagen auf einer Luftmatratze, die notdürftig aufgepumpt worden war. Ihr Atem ging flach und schnell. Die Augen standen weit offen, der Blick war zu Decke gerichtet.

Ende der Fahnenstange. Keiner wollte den Teilerfolg wirklich zelebrieren: das Kind lebte.

*

... saloppes Sonnenblumenfeld in bereits fortgeschrittener Entstehungsphase, dachte Muczikant Meixner und biss zerknirscht in die sechste der überteuerten Frühsommernektarinen. Eine Kilo um 3 Euro Fünfzig. Macht auf 6 Nektarinen 60 Cent das Stück. Grob gerechnet. Muczikant Meixner blieb kurz hängen. Das sind - bei etwa 6 Bissen - 10 Cent pro Bissen. Heftig, durchschoss es Meixner.

Er warf einen Blick auf das Display seines Handys und erspähte diesmal eine Anordnung von Ausrufezeichen, die eine blinkende 'Landluft' in die Mitte nahmen. Muczikant Meixner tippte auf "weiter" ... Höhe Kornwiesen, 1,5 km geradeaus, Biogasthof 'Landluft' abbiegen. 6 Dosen Bienenhonig kaufen und unauffällig naturtrüben Apfelmost trinkend weitere Order abwarten.

Bereits eine halbe Stunde später saß Muczikant Meixner mit 6 Dosen Ödenburger Wiesenblütehonig bei seinem zweiten Glas naturtrüben Apfelmosts. Keine weiteren Anweisungen.

Muczikant Meixner schwitze mittelmäßig stark aber stetig. Alle paar Minuten sprang er auf, hastete zum Auto, strich die Ostereier gerade oder überprüfte zumindest deren ordnungsgemäße Positionierungen. Die Sonne wanderte lakonisch auf ihrer Parabel westwärts und Meixner war mittlerweile bei Apfelmost Nummer 3 angelangt.

Muczikant Meixner war ein Spross der Gattung altösterreichischer verarmter Winkadel. Winkadelige sahen kurzfristig ihren Stern im Jahre 1918 auf- und gleich wieder untergehen. Der blassgesichtig-kränkliche und durchdrungen depressive letzte Kurzzeitaristokrat Karl hatte - bereits aus Wien flüchtend - Gerüchten nach mehrere Dutzend kaisertreue Großbürger sozusagen telegeadelt. Sie winktem dem Aristoflüchtling vollst der Teilnahme - er adelte sie mit einer larmoyanten Handbewegung offensichtlich über zwei bis drei Bahngeleise hinweg. Letztendlich blieb nur noch ein "von" - das letzte Geld fraßen meistens die krisengebeutelten Folgejahrzehnte und schließlich der Faschismus. Die 50er Jahre ließen den Winkadel schließlich in definitiver Bedeutungslosigkeit und zumeist finanzieller Misere zurück. Zudem war ihnen durch das strikte Adelsaufhebungsgesetz des Jahres 1919 verboten worden, ihre erwunkenen "vons" zu tragen. Geblieben war bestenfalls eine eigentümliche Affektiertheit, etwas unzeitgemäße Noblesse und fallweise nasalierter Feinsprech.

Letzteres betraf aber nicht Muczikant Meixner, denn er war zu all dem noch ein schwarzes Schaf altösterreichisch-verarmten Winkadels, hatte im Laufe der Jahre eine neurotisch mieselsüchtige Äquidistanz zu den Dingen dieser Welt aufgebaut und sich auf kryptische Gelegenheitsjobs mit einem Schuss Bedeutsamkeit spezialisiert.

Bedeutsames ereignete sich übrigens augenblicklich in Meixners Magen- und Darmtrakt, nachdem er das vierte Glas Apfelmost geleert hatte. Durchfall. Muczikant Meixner stürmte verkrampft hechelnd in Richtung biobäuerliches Plumpsklo in welchem er stöhnend und schnaubend für eine gute halbe Stunde verschwand. Danach tänzelte er mit erschlafften Schließmuskel zurück, wo er das harsch blinkende Display seines Handys vorfand. Hektisch drückte er einige Tasten und stellte fest, dass er für die Folgeorder rund 23 Minuten im Verzug war, was in Muczikant Meixners Prinzipienkatalog als mittelmäßig desaströs einzustufen war.

Meixner griff wie besessen nach den Waldblütenhoniggläsern, drückte sie ungelenk gegen die Brust, stolperte im Zickzack durch den Innenhof zu seinem Auto, riss die Tür auf, schleuderte seine Einkäufe auf den Rücksitz, hechtete auf den Fahrersitz, steckte gierig den Schlüssel ins Zündschloss, startete, blickte kurz links, dann rechts und erhaschte dabei vier grünbraune Klumpen auf dem Beifahrersitz.

Die Sonne war im Laufe ihrer lakonischen Parabel durch die Windschutzscheibe gebrochen und hatte so beiläufig die Schokoostereier über den dekorativen Rest geschmolzen. Und das alles innerhalb der letzten 35 Minuten.

"Du renitent solares Drecksstück !", brüllte Muczikant Meixner, quetschte seine Finger in das Lenkrad - als wollte er den letzten Tropfen Hartplastiksaft aus ihm herauspressen - und schlug seinen Vorderkopf mehrmals gegen dasselbe. Dann drückte er ohne Kupplung und mit schrillem Geknirsche den Retourgang hinein, trat gleichzeitig das Gaspedal durch und schob das nach hinten wegtorpedierende Heck zielsicher in eine Mähdreschervorrichtung der Marke John Dear.

*

Nach drei Tagen hemmungslosen Dauerbesäufnisses beschloss Onkel Johann zu handeln. Der Impuls dazu ereilte ihn um vier Uhr morgens, als der Weltschmerz ihm die Pulsadern zu öffnen drohte und die mazedonische Wirtin mitleidig ihre fülligen Unterarme um seine Schultern gelegt hatte.

„Oke Jo´han! Mochst du Geschichte verstaubt, wast du?! Brauchst du nix viel. Nur die Baum. Ollas. Fertig.“

Der Baum der Zerstäubung vermochte Geschehenes zu zerstäuben. Er lag immerzu südostwärts, und zwar bezogen auf den geografischen Ereignisort des zu zerstäubenden Geschehens.

Als zu zerstäubendes Geschehen galt jenes, das einem Individuum die Pulsadern zu öffnen drohte.

Die mazedonische Wirtin flüsterte sanft und bestimmt, mit einer tief geräucherten Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Nur über die Beschaffenheit des Baumes wollte sie sich nicht im Detail äußern. Auch nicht darüber was dort zu tun sei. Dies wäre themen- und geschehnisgebunden und ausschließlich vom Betroffenen selbst zu bestimmen. Nur so viel: es sollte ein Laubbaum sein und für Onkel Johann gefühlsmäßig stimmen. Was auch immer das heißen mochte.

Onkel Johann torkelte aus dem Lokal und sah den Morgen grauen. Ein diesiger Sonntagmorgen. Die Straßenschluchten wirkten leblos und gespenstisch. Einige Taxis waren unterwegs und die Zeitungsstände bereits aufgestellt. Er fingerte in seinen Hosentaschen umher und ertastete eine Geldmünze. Nach drei kaputten Telefonzellen fand er schließlich eine Funktionierende, warf die Münze in den Schlitz und weckte die posttraumatische Hebamme exakt um 05.33.

„Ja-ha, ha ?!“ hechelte die Hebamme, frisch aus einem Albtraum gerissen. Onkel Johanns Zunge lag schwer am Gaumen und ließ phonetisch kaum Zusammenhängendes vermitteln. Die Hebamme verstand anfänglich nur etwas von Geschehnis und Zerstäubung und dass Onkel Johann schon einen Baum im Kopf habe.

„Wooo??, gütiger Himmel, wo sind sie denn?!“, brüllte sie, angstschwitzte ihr Nachthemd binnen Sekunden klatschnass und vermochte erst mach mehrmaligen Rückfragen den Baum im Kopfe als eine Idee Onkel Johanns zu deuten.

Sie atmete mehrmals tief durch, strich die klatschnassen Stirnfransen aus dem Gesicht und lud ihren Gesprächspartner für 7 Uhr zum Kaffee.

*

„Sie war das einzige was ich je hatte. Oder zumindest zu haben glaubte. Vor allem während der letzten trostlosen Jahre, als meine jetzigen Krüppelfinger noch über Orgeltasten stolperten. Jeden Samstag brachten sie die Pfeifen zum Singen. Und jedes mal hatte sie mich nach der Abendmesse zum Essen eingeladen. Sie und die Kinder waren meine Familie. Und trotz der Acht- und Zehnfachbelastungen, die diese Welt ihr aufbürdete, fand sie jedes Mal Zeit und schenkte mir ….. Wärme …. und …“.

Onkel Johann stockte. Tränenpakete schossen aus seinen Augenwinkeln. Er starrte in die Kaffeetasse, die er mit seinen Fingern nur mühsam zu halten vermochte. Die Hebamme nickte indessen betroffen und füllte die Tasse immer wieder aufs Neue. Er leerte die Kaffeetassen praktisch auf ex, als wären sie doppelte Korn.

„Sie wissen, ich konnte nichts tun. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Das Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Ohne jede Vorwarnung. Wie aus heiterem Himmel. Selbst der Notarzt war fassungslos und hatte keine Erklärung. Das ist das schlimmste was einer Hebamme passieren kann, ich….“

Onkel Johann nahm ihre Hand und wischte sich mit der anderen über die feuchten Backen.

„Schon gut, sie können nichts dafür, ich weiß das. Sie haben getan was sie konnten“.

Er lehnte sich zurück

„Aber jetzt müssen sie mir helfen. Wir müssen dieses Geschehnis zerstäuben. Fragen sie mich nicht warum. Das Geschehnis MUSS zerstäubt werden. Ich brauche von Ihnen einen fachspezifischen Rat. Sie sind ja mit solchen Sachen befasst. Also mit Geburten und ähnlichem. Ich brauche sozusagen einen geschehnisbezogenen Tip. Irgendetwas okkultes. Vielleicht ein Ritual oder so. Was ist in solchen Fällen üblich? Weihrauch wohl nicht nehme ich an“?

„Nein – also … Weihrauch wäre sehr exotisch … ich meine ….“ – die Hebamme war kurzfristig verwirrt und teils noch in ihrem letzten Albtraum gefangen. Ihre zittrigen Hände griffen nach einer Schachtel Memphis Light. Sie zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen Lungenzug.

„Also manche vergraben die Plazenta.“

„Plazenta?“

„Die Nachgeburt“

Onkel Johann kratzte sich mit Daumen und Zeigefinger mehrmals das Kinn.

„Sie meinen da kommt mehr raus als ein Kind?“

„Ja, einiges noch“. – die Hebamme hob entschuldigend die Hände.

„Gott – im - Himmel …“. Onkel Johann versuchte möglichst nicht darüber nachzudenken. Wichtig war, dass es offensichtlich etwas brauchbares gab, aber –

„Wo zum Teufel soll ich jetzt eine Nachgeburt hernehmen?“

„Ähh, wie soll ich sagen …“ – die Hebamme machte weitere ungelenke Handbewegungen, schluckte und räusperte sich ein wenig hysterisch. Es nützte aber nichts. Ihre Stimme hätte Glas zum Bersten bringen können.

„Die Nachgeburt liegt im Gefrierfach“.

Onkel Johann stellte die Kaffeetasse ab und setzte sich auf.

„Die Nachgeburt liegt im Gefrierfach?“

„Ja. Also genauer gesagt in einem Billasackerl, gleich neben den American Pizzas. Ich dachte, also ich wusste nicht und …“ – ihr Gesicht war nun knallrot angelaufen. - „ …wahrscheinlich war es ein Reflex, aus Gewohnheit, weil viele meiner Klienten die Plazenta für diverse … ähm … Rituale verwenden. Zu einem späteren Zeitpunkt und …“

Onkel Johann stand mittlerweile.

Sie haben diese Nachgeburt in ein Billasackerl gegeben und in ihr Gefrierfach zu den American Pizzas gelegt? Das Placebo meiner Nichte?“

„Plazenta. Nicht Placebo. Und ich hab sie nicht zu sondern neben die Pizzas gelegt.“

Dann folge eine Pause. Vielleicht eine knappe Minute lang. Schließlich wandte sich Onkel Johann der Hebamme zu und blickte ihr tief in die Augen.

„Wissen sie was sie sind ?“

„Nei- hein?!“ – ihre Stimme machte einen schrillen Rückwärtssalto.

„Sie sind GE-NI-AL !!“ Onkel Johann riss die völlig verstörte Frau an sich, schlang seine mächtigen Arme um sie und drückte ihr dabei die letzten Luftblasen aus den Lungenflügeln.

Unten, auf der Straße, schlurften die ersten sonntäglichen Frühaufsteher in gelben und grünen Trainingsanzügen zu den Zeitungsständern.

*

Muczikant Meixner war fünfeinhalb Kilometer gelaufen bis sich endlich ein Tiertransporter seiner erbarmte. In einem übergroßen braunen Jägerrucksack, den ihm der Biobauer unwillig geliehen hatte, nachdem Muczikant Meixner einen 700-Euro Scheck als Kaution für die Schäden an er Mähdreschervorrichtung hinterlegt hatte, transportierte er die verklumpten Schokoosterhasen und den traurigen Rest seiner primären Mitbringsel. Zusätzlich schleppte er schwer an den sechs Ödenburger Wiesenblütenhoniggläsern, die er in Plastiktüten gestopft hatte und die seine Arme wie Lianenäste aussehen ließen.

Das Auto war Totalschaden.

Noch etwa fünf Minuten bis zur Tiefkühlgemüsefabrik wo er neue Order empfangen sollte. Insgesamt war er schwer außerhalb seiner Sollzeit. Im Augenblick etwa zweieinhalb Stunden.

Muczikant Meixner fühlte sich mittelmäßig beschissen und paffte deprimiert an seiner Pfeife – möglicherweise das einzige Relikt aus tradiertem Winkeladelgehabe an dem er festgehalten hatte. Seine Schläfenhaaransatzfrisur war aufgrund der wüsten letztstündigen Ereignisse völlig hinüber und er sah aus, als hätte er gerade eben zwei Hunderternägel gleichzeitig in eine Steckdose geschoben.

Als Muczikant Meixner an der Portierklingel der Tiefkühlgemüsefabrik klingelte, rührte sich erstmal nichts. Er benötigte an halbes Dutzend Klingelversuchte bis ein stark kugelbäuchiger schnauzbärtiger Typ erschien, Meixner herablassend begutachtete und ein zerkautes ja bitte ? folgen ließ.

„Ich habe einen Termin mit Frau Bichler.“

Der Portier sah ihn kurz ungläubig an und schob dann wortlos und missmutig seinen Kugelbauch zur Tür hinaus. 10 Minuten später erschien Katharina Bichler., Chefin der Qualitätskontrolle, mit einem Verpackungskarton in der Hand. Ihr Gesicht war glattgecremt, die Haare kurz und straff nach hinten durchgegeelt.

Schwarzgraues Kostüm.

„Muczikant Meixner?“

Meixner nickte.

„Ich habe ihnen schon ein Taxi bestellt“ – sie drückte ihm den Karton in die Hand.

„Das ist für sie. Gehen sie damit vorsichtig um. Mehr ist eigentlich nicht zu sagen. Taxirechnung geht ans Haus und – ja – grüßen sie Onkel Johann von mir.“

Und weg war sie.

Muczikant Meixner ließ sich schickalsergeben vor dem Portierhäuschen auf den Randstein nieder und wartete auf das Taxi.

*

„Ich soll sie hier absetzen“, meinte der Taxifahrer. „Wenn sie den Hohlweg da rechts hinuntergehen sind sie in einer Viertelstunde dort. Ein altes aufgelassenes Grenzerhäuschen, dottergelb. Nicht zu übersehen.“

Muczikant Meixner fühlte sich mittlerweile wie ein levantinischer Packesel. Immerhin, dies sollte die letzte Etappe seines Auftrages werden. Über Mangel an Kryptik brauchte er sich nicht zu beschweren. Bedeutsamkeit stand noch ein wenig aus.

Als Meixner das alte Zöllnerhaus, zwischen den mächtigen Buchen und Eichen auftauchen sah, schien alles paradiesisch ruhig und zeitlos verschlafen. Er stellte seine Gebäcksstücke ab und setzte sich auf einen Baumstrunk.

So. Hier schien absolut nichts zu sein. Der Wind spielte in den Baumwipfel und ein Kuckuck tönte von halb weit weg. Muczikant Meixner entschied nach einer angemessenen Verschnaufpause das Areal zu inspizieren. Er lief mehrere Male um das dottergelbe Haus, nahm kaputte Fenster und abbröckelnden Putz zur Kenntnis und stand schließlich wieder vor dem Portal. Von dort streckte sich eine lang gezogene Wiese bis an en nächsten Waldrand.

Und genau dort war etwas.

Muczikant Meixner kniff die Augen zusammen und konnte direkt am Waldrand, im Halbschatten eines Baumes, eine Gestalt erkennen. Doch genaueres war nicht auszumachen. Meixner hob die rechte Hand zum Himmel, senkte sie und hob sie wieder zum Himmel. Mit gehöriger Zeitverschiebung tat die Gestalt es ihm gleich, wenn auch deutlich langsamer. Das wars.

Muczikant Meixner eilte zurück zu seinem Hab und Gut und stolzierte damit Richtung final destination.

Onkel Johann war dermaßen erschöpft und am Ende seiner Kräfte, dass er Muczikant Meixner anfangs gar nicht bemerkte. Außerdem war er mittlerweile wieder in jenem Riesenkrater verschwunden, den er seit gestern wie besessen ausgebuddelt hatte.

Onkel Johann hatte es innerhalb der letzten 36 Stunden zuwege gebracht, ein so tiefes Loch zu graben, dass er selbst darin versank. Links und rechts neben dem Krater türmten sich zwei mächtige Erdhaufen. Darüber erhoben sich die gewaltigen Äste einer alten Eiche.

„Schönen guten Abend. Ich habe alle erforderlichen Utensilien mitgebracht. Entschuldigen sie die Verspätung aber unwirsche Zwischenfälle haben meinen Zeitplan völlig pulverisiert.“

Muczikant Meixner blickte von oben in den Krater hinab und versuchte gequält zu lächeln. Onkel Johann äugte zwar erschöpft von unten nach oben, doch sein Blick war heute bestimmt und durchdringend. Dann kletterte er ächzend aus dem Loch, schüttelte Muczikant Meixners Hand und meinte nur lapidar: „Gut, sehr gut“. Er begutachtete Meixners Mitbringsel und war hochauf zufrieden.

Onkel Johann öffnete kurz den Karton, lächelte selig, und schloss in wieder.

„Der Termin mit Frau Bichler war ok?“

„Der schon, ja“

„Ödenburger Waldblütenhonig, sechs Gläser,. Exzellent. Sie war in ihren Jugendjahren in einem keltischen Zirkel von jungen Leuten die auf Ruinen okkulte Feste feierten. Ich war mir nicht sicher ob die Kelten damals in dieser Region schon Wein anbauten. Hier an der Österreich-Ungarischen Grenze ist ja soviel passiert. Ich glaub ja eher es waren die Illyrer. Die kamen aus dem Süden und waren hellenistisch beeinflusst. Das würde eher auf eine Weinkultur hindeuten, wenn ein Volk sich von den Griechen inspirieren lässt, was meinen Sie?“

Muczikant Meixner kaute an seiner Unterlippe und nickte ernsthaft.

„Nun die anderen, die Kelten also, die kamen ja vom Nordwesten. Das waren praktisch Gallier die sich ursprünglich, im 5 Jdt., in der Schweiz, am Neuenburgersee, formiert und dann in alle Richtungen zerstreut hatten. Mit eher Stahlhelmen am Kopf und Bierkrügen in den Händen als mit Rebstöcken auf Südhängen. Hier in dieser Region sind sie aufeinander getroffen. Die Illyrer und die Kelten. Weiß der Kuckuck was die dann gesoffen haben. Ich dachte, am sichersten wäre Met. Also ein Metadaption gewissermaßen. Schauen Sie, hier …“ – Onkel Johann holte zwei Flaschen Slivovitz aus seinen Manteltaschen und leerte Sie in ein Wog-ähnliches Ding, das auf einem fetten Gaskocher stand.

Muczikant Meixner hatte beschlossen keine erläuternden Fragen zu stellen und statt dessen rythmisch und ernsthaft zu nicken

„So. Da rühren wir jetzt 3 Gläser Waldblütenhonig hinein und lassen das Zeug ein wenig köcheln Die anderen kommen mit der Nachgeburt ins Loch und …- was zum Himmel ist den mit den Osternestern passiert?“

„Wie gesagt …“ Muczikant Meixner räusperte sich ein wenig theatralisch - „… unwirsche Umstände...“

„Vergessen Sie´s. Schon in Ordnung. Was zählt sind die Bestandteile, nicht die Optik. Also die kartonierte Nachgeburt mit den Honiggläsern ins Loch, das schütten wir dann zu, legen die Nester obendrauf, für jede Himmelsrichtung eines und dann geht’s los“

Meixners Nicken blieb ernsthaft und rythmisch.

Als sie gegen Mitternacht ihre Arbeit beendet hatten und alle Requisiten unter der Erde lagen ging Onkel Johann, navigiert von einer mattgelben 1,5 Volt Taschenlampe, zurück zum Haus und kehrte mit einem alten Kassettenspieler sowie zwei massiven Tonkrügen wieder zurück. Er stellte ihn in die Mitte der Osternester.

Der Ödenburger Waldblütenhonig hatte sich mittlerweile mit dem Slivovitz zu einer zähflüssigen, okkerfarbenen Pampe vermengt. Onkel Johann war zufrieden. Er schöpfte die Krüge voll mit der Metpampe und reichte einen davon Meixner. Dann sank er erschöpft auf einen Baumstrunk und blickte eine zeitlang geistesabwesend zu Boden. Irgendwann hob er den Kopf.

„Können sie mir einen Gefallen tun? Drücken sie bitte die play-Taste am Rekorder.“

Es ertönte barocke Kirchenmusik, 15 Jhdt., aus der Kathedrale von Reims. Und zwar Alleluia Nativitas, von einem gewissen Guillaume de Machaut.

Muczikant Meixner und Onkel Johann vergaßen die Zeit. Und der Wald rings um sie verwandelte sich in ein mächtiges Kirchengebäude, das in jeder seiner Fasern von Orgelmusik und Chorälen durchdrungen war. Selbst Fledermäuse flogen nicht mehr und das Blöken der Rehböcke war verstummt. Die beiden nuckelten am zähflüssigen Met und über ihnen lag ein pechschwarzes Frühlingsfirmament, der erstmals in seiner Geschichte eine Gewölbeakkustik zurückstrahlte.

„Auf dass dies Geschehen zerstäubt wird“, murmelte Onkel Johann mit gläsernen Augen.

„Wahrlich, so soll es sein“ nickte Muczikant Meixner . Und auch Onkel Johann nickte, während das Alleluia Nativitas immer tiefer in seiner Seele wütete.

Oder der Met.

Oder beides.

* * *

Monday, March 06, 2006

Zong

Zong

Zong Gui Di wühlte schweißtreibend nach irgendwelchen brauchbaren Überresten.

Doch da war nichts mehr.

Er kniete mit schwieligen Händen und zerrissener, nass-triefender Kleidung auf jenem sonnigen Südhang im Staate Song, wo noch vor kurzem seine Hütte stand. Man schrieb das Jahr 437 vor Christus und das Leben konnte landläufig als durchaus mühseelig bezeichnet werden.

Wie immer in solchen Situationen bestieg Zong Gui Di den sonnenbeschienenen Südhang und stapfte mit wüst gefalteter Stirn und geballten Fäusten auf dessen Spitze, wo sich ein Holzkonstrukt befand auf dem eine Wasserbüffelhaut bespannt war. Von dort hatte er einen herrlichen Ausblick und vor allem Überblick.

Er überblickte den nach Osten mäandernen Yang Tse, dessen Flussschleifen kilometerweit sichtbar, sich schließlich in der Nachbarprovinz Hi Li verloren.

Meist entdeckte er dabei seine Familie, die auch diesmal auf einem Baumstrunk etwa 5 km stromabwärts trieb.

Zong Gui Di betrachtete zähneknirschend die Wasserbüffelhaut, griff dann wie immer zu einer wetterfesten Tinktur – vorwiegend aus Lotusblütenstengeln und Hibiskusblättern hergestellt – tunkte einen präparierten Krähenfuß in sie und ritzte reflektierte Beobachtungs- und Experimentaldaten sowie kontextuelle Kommentare in die ledrige Unterlage.

Diesmal war Zong Gui Di wirklich verstimmt. Die Hauptursache lag hierbei darin, dass er sich ein einer Zeit befand, wo noch niemand so genau wusste, was er von allen Dingen die da passierten, halten sollte und vor allem noch diejenigen fehlten, die solche Wichtigkeiten fieberhaft zusammenfassten, niederschrieben und dem Volke vermittelten.

Alles Denken, Forschen, Erkennen, Dogmatisieren, Verteufeln wie auch Glorifizieren – also jegliche Allgemeingültigkeit fehlte.

Zong Gui Di hatte in diesem periodischen Rausch des Entstehens für sich die große Schule der Bewegung ausgerufen. So ritzte er – nach jeder Erkenntnis die seiner Meinung nach der Bewegung zugrunde lag – alle sein An- und Einsichten sorgsam gegliedert in seine Wasserbüffelhaut.

Nachdem sich Zong zwei Stunden mit Erkenntnissen der Gro0en Schule der Beweung beschäftigt und diese zu Leder gebracht hatte, beschloss er aufzubrechen und seine Familie zu retten. Er sattelte sein Pferd, schwang sich auf dessen Rücken und wartete.

Hier ist anzumerken, dass Zong Gui Di Sympatisant einer Denkschule war, die unter dem Namen Tao um sich zu greifen begann. Eine Vorstellung namens Wu Wei galt darin als Säule und Zong Gui Di hatte sie quasi in seine große Schule der Bewegung übernommen: keine sinnlosen Anstrengungen unternehmen und vor allem nichts tun, was der Dynamik der Ereignisse zuwiderläuft.

Folglich wartete Zong Gui Di in sich gekehrt auf dem Rücken seines Pferdes und hoffte innerlich, dass die Rettung seiner Familie sich mit der Dynamik der Ereignisse anzufreunden begann.

*

„Das war unser 17. Haus und ich kämpfe wahrlich mit einer inneren Schlange die sich zu einem Drachen auszuwachsen droht. Und eines Tages, lieber Mann, könnte dir dieser Drache seine Fangzähne in die Augenhöhlen rammen. Dies, lieber Mann, ist nur so ein Gedanke.“

Zi Gui Di, die Frau Zongs, trottete neben ihrem Mann her, der den Pferderücken nicht verlassen hatte, um keine sinnlosen Anstrengungen zu unternehmen. Die drei Kinder stolperten schweigend hinterher.

„Beruhige dich, Frau“, antwortete Zong. „Die Existenz aller Dinge rührt vom Sein und das Sein vom Nicht-Sein. Wie unser 17. Haus aus dem Sein durch unvorhersehbar unwirtliche Umstände ins Nicht-Sein hinüberglitt, wird unser 18. Haus mit gewogener Kraft aus diesem Nicht-Sein wieder entstehen“.

Zi Gui Di vermied es zu antworten und biss anstatt dessen – aufgrund potentieller innerer Disharmonien – einen Mahlzahn aus ihrem Hintermund, an dem sie eine geraume Weile schweigend lutschte und ihn schließlich in das Flussbett spuckte.

Die Dynamik der Ereignisse haben Zong Gui Di´s Pferd erst nach zwei Tagen zu dessen Familie finden lassen. Sein oder Nicht-Sein: die Kinder waren schwer unterkühlt gewesen und Zi hatte sich eine lästige Nebenhöhlenentzündung geholt.

Zong Gui Di grübelte: das 17. Haus war eigentlich hervorragend ausgelotet gewesen. Südhang, Sonne, Boden, Fruchtbarkeit, Windrichtung – alles verlief konform mit den bisherigen Erkenntnissen der großen Schule der Bewegung. Die Distanz zum fließenden Wasser hatte gestimmt und die Rundung der Flussschleife hatte auch gepasst: 120 Grad, nahezu eine Idealkrümmung.

Der Yang Tse war trotzdem mit vulkanesker Wucht über die Ufer getreten und hatte Zongs Haus, das exakt 20 Meter über dem Flussbett stand, ins Nicht-Sein befördert.

Als die Gui Di´s wieder die Flussschleife erreichten wo einst ihr Anwesen stand, schlug Zong vor ein improvisiertes Lager zu errichten und lud zu innerer Meditation ein wobei er einen freien Mitarbeiterstatus innerhalb der großen Schule der Bewegung in Aussicht stellte. Aufgrund mangelnder Alternativen und völliger Erschöpfung willigte seine Familie ein.

Nach mehrstündigen innerfamiliären, meditativen Verweilens, das Zi Gui Di streckenweise zum Wäschewaschen zweckentfremdete, erhob sich Zong , kniff die Stirn zusammen und zwirbelte hochkonzentriert sein Ziegenbärtchen. Dann schloss er die Augen und presste beide Zeigefinger fest gegen die Schläfen.

Zong Gui Di stand so eine Weile da. Die Kinder saßen schweigend um das Feuer und Zi kochte mitlerweile ein Süppchen. Schließlich nickte Zong zweimal bedeutungsvoll, holte den Topf mit der Lotus-Hibiskustinktur vom Feuer, schob den Krähenfuß in seinen Hosenlatz und erklomm erneut den Hügel um seine Wasserbüffelhaut zu besuchen.

Er kleckste das Leder wie besessen mit Analysen der letzttägigen empirischen Studien voll und am Ende war die große Schule der Bewegung um ein gewichtiges Kapitel reicher. Der Tag begann zur Neige zu gehen und Zong stampfte mit einem Gewinnerlächeln den Hügel hinab um erneut Großes zu vollbringen.

*

8 Wochen dauerte der strategische Haus-Neubau der Familie Gui Di bzw. das Entstehen von Sein aus Nicht Sein. Zong Gui Di hatte in sein Zusatzkapitel noch mehr Parameter, die auf Bewegung Zugriff hatten, miteingeflochten und ein nach außen offenes Bezugssystem kreiert. Die Dramaturgie des Geschehens war nun fundamental der Dynamik der Ereignisse zugesprochen und alle Elemente wurden als gleichwertig behandelt.

Zong hatte seine neue Behausung wieder an der Flussschleife errichtet. Aber diesmal knapp über dem Wasserspiegel.

Philosophisch-okkulte Strömungen waren im China des 5. vorchristlichen Jahrhunderts noch mangelhaft ausgeprägt. Animistisches Allerlei kopulierte mit Spritituell-Religiösem, das sich langsam vom südlichen Indien heraufwälzte. Synergien wurden eingegangen, manches wieder ausgespuckt und weiter Richtung Osten, bis nach Japan gereicht. So gesehen konnte Zong Gui Di durchaus als Avantgardist seiner Zeit und Geographie betrachtet werden.

Zwei Begriffe waren aber schon damals virulent: sie hießen yin und yang.

Yin und yang befanden sich zu dieser Zeit in einem eher primitiv okkulten Deutungsstatus wie kalt/Norden (yin), warm/Süden (Yang) bzw. Erde/Mond (yin) und Sonne (yang). Es waren einfache Richtlinien, die den Menschen halfen einem volkstümlichen Dualismus zu fröhnen, ein wenig Orientierung zw. Himmel und Erde zu erlangen und mglw. die eine oder andere Wechselwirkung zw. den Dingen herauszufiltern.

Allenfalls meinte Zong Gui Di, dass dies zu wenig wäre. Hinsichtlich der Interpretationselastizität gaben die Begriffsdeutungen zu wenig her. Also reicherte er sie mit an mit aktiv/bewegt (yang) und passiv/unbewegt (yin). Später sollte noch mehr daraus werden. Doch alles zu seiner Zeit.

Jedenfalls saß Zong Gui Di nun auf der Terrasse seines neuen Häuschens, zwirbelte sein Ziegenbärtchen und harrte der Dinge die da kommen würden.

Und es kam yin-Regen. Ein passiver, emotionsloser Landregen, der hektoliterweise vom Himmel fiel und in Bälde yang zu werden drohte.

Zong Gui Di hatte alle Vorkehrungen getroffen und das Haus nach seinen Vorstellungen absolut yang-fest gemacht. Ein sonnendurchfluteter Südhang (yangyang) auf dem ein Häuschen still stand (yin). Wenn aber das Sein aus dem Nichts und umgekehrt kam, so musste auch aus yin yang werden können und umgekehrt so wie aus einem einzelnen Mann eine ganze Armee und aus der Schlange ein Drachen werden konnte.

So gesehen war Zong nichts anderes übrig geblieben als sein yin-Häuschen mit einer yang-Option zu versehen.

Das Haus der Gui Di´s galt quasi als state of the art der großen Schule der Bewegung.

Da der Wasserspiegel des Yang Tse stündlich nach oben driftete, empfahl Zong Gui Di seiner Familie das Haus nicht mehr zu verlassen. Die Kinder saßen schweigend um die Feuerstelle und seine Frau Zi brühte ein traditionelles Süppchen. Nebenbei schüttelte sie immer wieder den Kopf und meinte, dass Häuser, die an einer Flußaußenschleife erreichtet werden, purer Schwachsinn seien. Das sei auch nur so ein Gedanke, ergänzte sie. Doch Zong Gui Di erwiderte, die Flußaußenschleife hätte -aufgrund ihres yang-Status – einfach eine größere Affinität zur großen Schule der Bewegung. Sie könne das oben, in den wasserbüffelhäutigen Niederschriften, nachlesen. Es sei alles komplex durchdacht.

In jenem Augenblick, als Zong fertig doziert hatte, erfasste der Yang Tse die gesamte Gui Di´sche Behausung inklusive Bewohner und riss sie in einem so genannten yang-Effekt mit sich. Der Augenblick des Erfasst- und Fortgerissenwerdens verzückte Zong Gui Di derart, dass er mehrmals hintereinander ejakulierte. Einfach so. Dann verlor er die Besinnung.

*

Als Zong Gui Di wieder erwachte reichte ihm seine Frau eine Schale mit frischem Süppchen aus Flussalgen. Seine Kinder saßen wie immer schweigend neben der Feuerstelle und starrten Richtung Westen, wo gerade die Sonne unter zu gehen begann.

„Du hast beim Übergang von yin auf yang das Bewusstsein verloren, lieber Mann, und mehrmals in deine Hose ejakuliert. Ich hoffe es geht dir mittlerweile besser“.

Zong Gui Di erhob sich etwas benommen von seiner Liegestätte, streichelte die Köpfe seiner teilnahmslosen Kinder, atmete tief duch und blickte glücklich um sich. Sein Haus trieb – in sich manifest – auf dem Yang Tse.

Zong Gui Di hatte ein Hausboot gebaut und seine Rechnung war voll aufgegangen. Die große Schule der Bewegung hatte einen Quantensprung vollzogen.

Alle Elementarteilchen in Zongs Körper schwangen hochfrequent im mattgelben Abendlicht. Er fühlte sich leicht wie eine Hühnerfeder in einem Wintergewitter.

„Liebe Frau, liebe Kinder“, entströmte es ihm, „es ist Zeit für ein Liedchen“.

Er griff nach einem prähochkulturellen, alten chinesischen Saiteinstrument, setzte sich auf den Bug seines Hausbootes, blickte in die untergehende Sonne und begann – seinen hochfrequenten Elementarteilchen entsprechend – zu musizieren.

Anfangs improvisierte er, hantelte sich von Fünftonriff zu Fünftonriff, war dabei ungemein experimentell, kippte aber schließlich in einen ¾ Takt, in ein n´tscha n´tscha n´tscha.

Sein Becken schien zunehmend zu oszillieren während seine Kniegelenke immer weicher wurden., die Schulterblätter sich im Ganztakt hoben und senkten und das anfänglich tönende Krächzen in ein rauchiges Vibrato überging.

Ein augenscheinliches yang-Vibrato schien Zong Gui Di zu bewegen.

„Ohhh -, ohhhhhh yeahhh – ohhhhhhhhhhz ye-ahhhhhhhh!!“ (n´tscha n´tscha n´tscha …)

(E) Yes I was born in the country – never been to to-own

(A) Yes I was born in the country – never been to to-own

(H) Lord I´ll never go to a big city-y

(A) wastin my time there

(E) running around (...)

Noch nie dagewesene Laute tönten von der Flussmitte des Yang Tse und Augenzeugen berichteten, dass sie einen Mann sahen, der mit einer Leier in der Hand Unverständliches brüllend, auf einem im Wasser treibenden Haus herumhüpfte, dessen Frau um einen Kochtopf tanzte und von einer handvoll eher unbeweglicher yin-Kinder, die aber in eigenartigen Abständen immer wieder huh-huhhh gröhlten.

Das Hausboot der Gui Di´s trieb in den Sonnenuntergang und die Kunde über die Geschehnisse um die große Schule der Bewegung breitete sich wie ein Lauffeuer über Zentralchina.

Zong Gui Di´s Kenntnisse über die elementaren Grundsätze von Bewegung und Menschsein, in Gesundheit, Glück und Harmonie mit dem räumlichen Umfeld brachten ihm Meisterstatus.

Der Name der Schule mutierte im Laufe der Jahre von großer Schule der Bewegung hin zu Feng (von ursprüngl. Mandarin/ Fing = Körpersaft, Sperma) Shui (ursprüngl. Shu-hi = überraschender Besuch, unerwartetes Aufeinandertreffen). Etwa ab Beginn der Tang Dynastie (618-907) einigte man sich auf Samen der kommt ohne gerufen zu werden.

Die Kunst begann sich zu einem richtigen Boom auszuwachsen.

Hunderte Häuser trieben den Yang Tse hinab.

Manche versanken, manche nicht.

Und Zong Gui Di versammelte scharenweise Jünger um sein Hausboot, die alle jenem Samen nachspüren wollten, der kam ohne gerufen worden zu sein: FENG SHUI