Saturday, February 18, 2006

liebe

Liebe


„Wie lange häh?, wie lange bist du oben gewesen?“


„Ich? Ähh ... ich ...??“. Gilbert stotterte. Wie lange war er oben gewesen? Einige Minuten, vielleicht eine Viertelstunde. Maximal. Doch eine Viertelstunde wäre eindeutig zu lange gewesen, also wollte er es mit 5 Minuten versuchen. 5 Minuten müssen o.k. sein. Bitte, dass ist ja unfassbar. Fünf winzige Minuten. Aber möglicherweise ... in 5 Minuten kann verdammt viel passieren. Gilbert hielt beide Handflächen beschwichtigend nach vorne.

„Vielleicht 4 Minuten. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen, ehrlich.“

„So, du hast nicht auf die Uhr gesehen, was? Woher weißt du dann, dass es 4 Minuten waren, hä?.“

„Grobe Schätzung, also kurz rauf, das Benzingeld hingelegt, den Autoschlüssel zurückgegeben und dann ...“

„Dann was, häh, was dann ?!“

Nadine hatte ihn in die Ecke gedrängt. Seine Schultern klebten zwischen Klotüre und Kleiderständer. Sein Bewegungsradius war gleich Null. Nadines grünblaue Augen blitzten und stachen so furchterregend, als wären sie im Stande Rohdiamanten zu zerkratzen.

Gut, er hatte wirklich einen kleinen Mokka getrunken und eine Zigarette geraucht. Ohne jede Absicht. Und während er die schwarzbraune Brühe hinuntergestülpt hatte waren ihm schon die Schweissperlen aus den Poren getreten. Zeit, Zeit, war es ihm ständig durch den Kopf geschossen. Gleich einer Lunte, die langsam vor sich hinbruzelte.

„Bitte“, flehte er, „bitte Nadine, es gibt überhaupt keinen Grund aggressiv zu werden, ich ..“

„Was heisst hier aggressiv. Aggressiv !?“ – Nadine donnerte den Baseballschläger gegen den Kleiderständer. Ein Wintermantel, zwei Mützen und ein Anorak verhedderten sich in Gilberts Oberarmen die er zur Deckung hochgefahren hatte. Ein zweiter Schlag, zertrümmerte das Telefontischchen neben seinem linken Knie. Gilbert taumelte nach rechts, die verhedderten Arme nunmehr noch höher gezogen verlor er Sekundenbruchteile später das Gleichgewicht und riss die ganze Vorrichtung mit sich.

„Ich bin aggressiv, hä ? Während du mit dieser Nutte da oben stundenlang vögelst bin ich aggressiv ? Du kannst dir dein dreckiges Spiel in die Haare schmieren du mieses, du verlogenes Schwein.“

Gilbert wusste, dass sie gleich wie wie von der Hornisse gestochen den Vorzimmerschrank kippen würde.

Voll mit Unterhosen, Bodies und Kinderbekleidung.

Gilbert verkroch sich noch tiefer in Teilen des Wintermantels während das Zeug sich schrill krachend im Zimmer verteilte.

Er konnte augenblicklich nichts sehen.

Das war gut so.

Das einzige was er zum Abschluss fühlte war ein wüster Tritt in die Magengegend der aber großteils in den Anoraks verpuffte.
Dann spuckte eine ins Schloss wuchtende Türe Glassplitterbruch über ihn und schließlich war es ruhig.

Ganz still.

Gilbert schaufelte sich aus seinem Textilgrab und kroch auf allen Vieren zur Türe, öffnete sie und blickte in den Flur.
Alles friedlich.
Er setzte sich auf, lehnte seinen Rücken gegen die nächste Wand und steckte sich eine Dromedarzigarette zwischen die Lippen..

Gilbert zog zweimal tief durch und bließ Rauchkringel in das menschenleere Stiegenhaus.


*

Das Haus als solches beherbergte neben Nadine und Gilbert noch Ursl, eine Singlefrau, die sich vor allem um drei Dinge kümmerte: um sich selbst, um sich selbst und um sich selbst.

Also etwas differenzierter beschrieben könnte man noch hinzufügen: aufgrund einer Nahrungsmittelphobie, die sie völlig wehrlos in die Arme von exorbitant überteuerten Biolädenketten trieb, litt ihr Haushaltsbudget dermaßen, dass sie sich industriell-plebäische Grundnahrungsmittel im gesamten Haus zusammenklauen musste. Was im Laufe der Jahre zwei weitere Phobien produzierte: erstens jene, zwanghaft klauen zu müssen und zweitens die daraus folgende, nämlich dabei ertappt zu werden und sich als getrieben assozial zu fühlen.

Sobald beide Szenarien in verdichteter Form in Erscheinung traten, reagierte Ursl laut Plan X: Sie lief kreischend und schreiend in ihr kleines Wohnstudio im obersten Stock und verschanzte sich ein Monat lang hinter ihrem Computer. Speziell während solcher Monate gehörte sie sich nicht nur zu 100 % selbst. Nein. In solchen Monaten versuchte sie die Prozentrate zu steigern. So etwa auf 130 bis 140 %. In solchen Perioden steuerte eine Endlosschleife durch ihren Kopf. Die sogenannte Ich-Ursl-alles-mir-selbst-Schleife.

Meist endete solch eine Phase mit einer Internetbekanntschaft. Dann gönnte sie sich etwas. Etwas für sie ganz alleine. Zum Beispiel zwei Wochen lang vögeln mit einem zahnlosen Rinderzüchterr in US-Montana. Häufig ließ sie sich dabei einfliegen und wieder ausfliegen was letztendlich tiefe psychohygienische Schrammen hinterließ. Die sie wieder zu heilen trachtete. Indem sie sich etwas gönnte. Kleine Belohnungen, nur für sie selbst natürlich. Ein Bioladen Fresspakat um 300 Euro etwa.

Oft klopfte bald darauf das übrige Kollektiv an Ursls Tür und klatschte ihr ein Paket offener Rechnungen auf den Tisch, während sie sich noch immer irgendwelche Tofupasten hineinschob und an ihren ahornsiruptriefenden Fingerspitzen nukelte. Strom, Gas, Miete, Telefon und dergleichen. Ursls Reaktion war bemerkenswert, strategisch eher simpl gestrickt aber sozialpsychologisch unglaublich interessant. Plus-minus etwas in der Art von:
„Ich hab zur Zeit einfach überhaupt kein Geld.“

Schulterzuck.

Fertig..

Ursl war mitlerweile 30 und galt als Semipflegefall, Kategorie Riesenbaby. Ursls Dilemma dabei war, unter anderem natürlich, der inferiore Beziehungs-Marktwert von Riesenbabies.
Niemand wollte Riesenbabies.
Einfach niemand.


Und last but not least war da noch Franka mit ihrer Tochter. Im Gegensatz zu Ursl vermochte Franka alles zu teilen. Männer, Frauen, Nahrungsmittel, Wohnraum, Autos, Zahnbürsten, Handttücher, Kondome. Absolut alles. Das klang vor allem umso aufrichtiger, je mehr Franka ihre Mandelaugen auf Halmast setzte und lasziv die Wahrhaftigkeit spontan gelebter körperlicher Sehnsüchte beschwor. Mit einer leise gehauchten Stimme und stark gedehnten Vokalen, die Frankas provinzielle Abstammung verrieten.

Für Nadine, deren ethisches Selbstverständnis im aristokratischen Milieu der Jahrhundertwende wurzelte, war Franka die simple Ausgeburt einer proletarischen Schlampe.

*

Gilbert erhob sich nach einer Weile und stapfte die Stiegen hinunter in den Hinterhofgarten. Seine dünnen Haare wucherten wie immer wüst in alle Richtungen. Heute vielleicht noch ein wenig wüster. Er wusste, dass er sich nur in einer Feuerpause befand. Nicht mehr und nicht weniger. Jeden Augenblick konnte der Wahnsinn weitergehen, wobei die Wahl der Waffen nicht abzusehen war. Auch nicht das Ausmaß der Kolateralschäden.
Gilbert hatte schon vor einigen Monaten begonnen in Metaphern aus Kriegsvokabular zu denken. Wobei er es eigentlich wider Willen tat. Aber es war für ihn die einzige Sprache die die Vorgänge der letzten Monate zu beschreiben vermochte. Zumindest die einzig ihm zugägliche Sprache..

Der Garten war nicht allzu gross. In seiner Mitte stand ein altes Waschhaus wie sie es noch Anfang des letzten Jahrhunderts verwendet haben. Rechts davon hatten sie einen kleinen Gemüsegarten angelegt. Einen von der eher traurigen Gestalt. Ein paar Tomatenstauden, ein Paprikapflänzchen, Karotten, von denen niemand so richtig wusste wie es tasächlich um sie stand und basilikumlastiges Kräuterallerlei.
Gilbert atmetete noch einige male schwer durch und sank schließlich inmitten des Tomatenbeetes zu Boden. Von rechts kroch der Basilikum angenehm in seine Nasenlöcher. Und über seinem linken Auge baumelte eine rotgrüne Tomate.

Weiter oben quietschten von Zeit zu Zeit offene Fensterläden, die durch launische Windböen gebeutelt wurden.

Warum sie wohl keine Zitronenmelisse angesetzt hatten?, dachte Gilbert.

*

Gilbert saß in einem großen Raum. Einem von der Sorte wie sie in Psychiatriefilmen vorkamen. Weißes gleißendes Licht, minimalistisches Interieur. Vielleicht ein Tisch, zwei Stühle, irgendwo eine Couch möglicherweise. Und ein sandfarbener Schrank mit Ordnern, Mappen, ein wenige Fachliteratur und Broschüren.

Nadine stand in der Mitte des Raumes, einen Staubsaugerschlauch in ihrer Hand. Sie tauschte gerade das Aufsatzteil und montierte ein schmales Saugrohr, um in kleine Ritzen zu kommen, die es eigentlich hier nicht gab.

„Weisst du eigentlich, dass sie stinkt?“

„Wer stinkt?“ Gilbert hing - wie meist - etwas verlegen auf der Couch und suchte in seinen Taschen nach Zigaretten die er nicht besaß.

„Riechst du das nicht? Sie schweisselt. Am ganzen Körper“. Nadine hatte den kleinen Aufsatz montiert und betrachtete zufrieden ihr Werk.

„So? Ist mir noch nicht aufgefallen“.

„Ist dir noch nicht aufgefallen,? Aha. Sehr interessant. Dieses Stück Dreck klebt 24 Stunden am Tag wie eine Klette an dir, sie schweisselt dermaßen, dass es einem aus drei Metern Entfernung die Füße wegzieht, und dir ist es noch nicht aufgefallen. M-hmm“.

Solch Situationen waren häufig, eigentlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, der Initiator für Nadines Metamorphosen. Dabei begann ihr Körper zu einem leicht zuckenden, roboterhaften Konvolut zu erstarren, den Augen wich das sanfte grünblau und machte den stechend rötlichen Feuerbällen Platz.
Der Rest des Gesichts fror zu einer venezianischen Karnevalsmaske.

Nadines augenscheinlichstes Merkmal für Freunde und Bekannte war gleichzeitig ihr argumentatives Vietnam.
Nadine war Fortpflanzungsfetischistin.
Also, wie gesagt, warum sie Fortpflanzungsfetischistin geworden war, sozusagen, war ihr selbst nicht ganz klar. Eines stand fest: in der Reproduktion fand sie Geborgenheit und Sinn, getragen von etwas geradezu Spirituellen, beinahe Mystischen. Entwachsen einem Zustand des Alleredelsten. Folglich nutzte Nadine annähernd jede fruchtbare Phase um sich zu reproduzieren. Wie gesagt, dass waren nicht wirkliche ihre Argumente. Dass vermuteten vielmehr die anderen.
Manche behaupteten, dass dieser Prozess süchtig machen kann. All der in teuflische Bewegung geratende Hormonsalat, der nach oben gallopierende Östrogenspiegel und ähnliches sollen rauschähnliche Zustände hervorrufen..
Nun ja, unterm Strich hatte Nadine bereits seit langem Liebesfruchtprotagonisten und quäkerähnliche hard core Phänomene wie die Kelly Familie hinter sich gelassen.
Keiner vermochte so richtig und auf Anhieb die Anzahl ihrer Kinder zu nennen.
Es waren jedenfalls verdammt viele. Und sie waren immer irgendwo. Manchmal da. Manchmal weg. Bei irgendwelchen Vätern oder anderen stark fluktuierenden Betreuungserscheinungen.

Doch jetzt befand sich Nadine gewissermaßen in einer Sinnkrise. Bzw. begann sie sich solche oder artverwandte Fragen zu stellen wie: gibt es ein Leben nach der Reproduktion?. Beispielsweise.

Dass sie in dieser Phase bei Gilbert hängengeblieben war, verstand niemand so richtig. Gilbert galt als haltloser Lebensweltensurfer, der – wenn überhaupt – nur einen Schönwetterpropheten der 3. Liga zu immitieren vermochte. .
Allerweltstheorien von hier und da, meist ein wenig existentialistisch. Kaum Trost für den Zuhörer. Eher eine Anleitung zum Suizid. Negativdefinitionen zuhauf, durchmischt mit einer sozialparasitären Getriebenheit, die er durch einen permanenten stop & go zickzack-Kurs zu kaschieren versuchte. Meist lag er irgendwo rum, drehte Haschischjoints oder versuchte einfach nur arrogant zu wirken.
Wie auch immer. Alle hatten ihr abgeraten. Aber Nadine hatte es sich anfangs so eingebildet und später, als Gilbert quasi zu einem Möbel mutiert war, nun, sie hatte ihn jedenfalls weiterhin mitgeschleppt. Als würde er irgendwann - wie ein unterschätztes art deco Teil - doch noch etwas wert werden.

Also Franka stank. Das war neu. Und es verschlechterte Gilberts Status ohne Zweifel. Nun trieb er es in Nadines Augen nicht nur mit einer miesen, haltlosen, dreckigen, verlogenen Schlampe. Nein, nicht genug, nun auch noch mit einer stinkenden.

Gilbert erhob sich von der Couch. Nadine saß am Staubsauger, den Schlauch noch immer in den Händen. Ihre venezianische Karnevalsmaske starrte in das polierte Fischgrätenparkett. So was verhieß nichts gutes.
Gilbert dachte an die zwei Dutzend völlig durchgeknallten Auszucker, die er bisher erlebt hatte. Von seinem unteren Rücken begann eine Gänsehaut nach oben zu laufen. Seine Fingerkuppen furchten nervös über den Couchbezug, die Backenzähne rieben aneinander. Er wußte, dass er hier nicht mehr rauskam. Nicht einfach so. Und er wußte noch etwas. In diesem Schrank, unterhalb der Ordner und Broschüren, befand sich eine Flinte. Sie war geladen. Natürlich war sie geladen. Die Flinte im Schrank war immer geladen. Er stampfte bestimmt und direkt an Nadine vorbei, die mitlerweile einem Druckkochtopf mit defektem Ausgleichsventil glich. Er erreichte den Schrank. Der Schlüssel steckte. Gilberts Brustkorb hob sich einmal, dann noch einmal. Er drehte den Schlüssel zweimal nach rechts. Die Tür sprang ihm entgegen.
Und da war sie. Eine haselnussbraune Flinte. Sah aus wie ein Jagdgewehr. Gilbert zögerte nur Bruchteile von Sekunden. Dann riss er die Flinte an sich und schwenkte sie um 180 Grad.
Nadines physischer Ausdruck hatte sich in dieser kurzen Zeit extrem authentisch verdichtet. Ihr Brüllen drang in springflutartigen Schallwellen zu ihm herüber. Ihre beiden Hände umkrallten den Saugschlauch und der Staubsauger selbst zirkelte wie ein Torpedo durch den Raum während sich Nadine in entrückter Trance um die eigene Achse drehte.

Gilbert schoss ruhig und trocken. Etwa 18 mal. Zwölf mal auf Nadine und sechs mal auf den Staubsauger.

*

„Hihi, mitten im Tomatenbeet...“ hörte Gilbert aus nächster Nähe. Als er die Augen
aufschlug kletterte rund ein halbes Dutzend Kinder auf ihm herum.
Franka goss gerade die Blumen. Ihre Zehen dicht neben seinen Kopf.

„Und, gut geschlafen?“
Gilbert öffnete kurz den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Er hatte noch immer etwas
Basilikumgeruch in der Nase, aber diesmal war etwas anderes dabei. So eine Mischung aus
Elastan, Polyacryl mit ..., also obwohl er augenblicklich nicht ganz auf der Höhe war
hätte er schwören können es war: Schweiß.

Franka dampfte richtiggehend aus ihrem Kunststoffzeug. Gilbert blieb liegen. Er sah sich außerstande aufzustehen. Unmöglich. Wer weiß, was gleich passieren würde. Immerhin war er mit Franka im Garten. Das reichte für ein mehrtägiges Fiasko mit zahlreichen Sach- und Personenschäden. Und wenn er schon mal am Boden war konnte sich seine Position kaum wesentlich verschlechtern.

„Mensch, du bist ja ordentlich verschwitzt“. Gilbert entglitt dieser Satz sehr lapidar.
„Natürlich bin ich verschwitzt. Und wie verschwitzt ich bin. Ich bin Subprolo. Hast du das vergessen? Die schwitzen enorm. La-la-la...“

Franka grinste und lenkte den Wasserstrahl Richtung Paprikapflänzchen.

Das stimmte. Franka kam von ganz unten. Obwohl das von außen kaum erkennbar war, so galten für sie in vielen Dingen andere Parameter als für Leute, die aus der Mittelschicht oder darüber kamen.

Gilbert mochte Franka. Nun, vielleicht war es auch nur ein gewisser Respekt, den er ihrer Lebensführung entgegenbrachte. Sie hatte unglaubliche Nehmerqualitäten, war fast durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Behielt länger die Nerven als fast alle anderen Menschen die Gilbert kannte. So was macht Eindruck.
Obwohl sie sehr oft scheiterte, da sie das Konstrukt ihres ganz persönlichen Mikrokosmos` gnadenlos und mit störrischer Penentranz auf andere Mikrokosmosse übertragen wollte. Inklusive Regeln, Belastungsgrenzen und – wie gesagt – Nehmerqualitäten. Andersrum: wer will schon Kondome teilen? Oder stellen sie sich vor, sie sind gerade frisch verheiratet, absolutes Zweier-Liebesding, gerade mal eine Woche amtlich bestätigt und Franka kommt um halb zwei Uhr früh in ihr Schlafzimmer, mit irgendwelchen brauchbaren Utensilien wie beispielsweise Gummischwänzen oder einem soliden Peitschensortiment und schlägt einen kreativen Dreier vor? Oder sie wollen nur schnell zum nächsten Bäcker für einen Leib Brot und Frühstückssemmeln, steigen bei Franka ins Auto, die hält in zweiter Spur, huscht schnell in die Bankfiliale auf der gegenüberliegenden Strassenseite, kommt nach wenigen Minuten mit zwei Plastiktüten wieder raus, springt ins Auto, die quietschenden Reifen hinterlassen ein halbens Kilo Gummi auf der Fahrbahn und ihm Rückspiegel sehen sie gerade noch einen hoch enervierten Tomatenkopf aus der Bank heraushechten der „Überfall, Überfall!“ brüllt.


Aber Liebe? Liebe war für Gilbert nichts als ein sich ständig verändernder biochemischer Prozess. So etwas wie ein Automobil. Ein logarythmischer Selbstgänger. Also eine Kurve die irgendwie verlief. Wann und auf welchem Punkt es Liebe oder der Anflug von Liebe oder einfach Zuneigung oder Liebe in Progress oder einseitiges Dahinschmelzen, beiderseitige Extase, dass beginnende Vertrocknen einstiger Passionsfrüchte oder sonst etwas darstellte, war für ihn nichts mehr als die blödsinnige Inszenierung von subjektiven Welten mit dem noch schwachsinnigeren Anspruch der Allgemeingültigekeit.



"So was muß man sich mal vorstellen ...", sagte er immer, wenn er Haschischjoints drehte, monologisierte und arrogant zu wirken versuchte - "... subjektive Welten, also die Weltsicht irgendeines Menschen inklusive dessen Sehnsüchten, Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen, treffen auf irgendeinen anderen Menschen, mit mglw. völlig anderen Sehnsüchten, Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen. Und diese beiden sollen in einem akrobatischen Anflug von - nennen wir es Annäherung, gleichzeitig und völlig übereinstimmend einen abstrakten Terminus befriedigen, der von irgendwelchen dahergelaufenen Schöngeistern „Liebe“ genannt wird. Welch krankes Anforderungsprofil (...)".

Gilbert schauderte es nur bei dem Gedanken daran. Adrinalin strömte durch seinen Körper. Doch Gilbert blieb liegen. Jetzt galt es vor allem liegen zu bleiben.
Von draussen tönte eine Türklingel. Gilbert hörte Stimmen. Er schloss die Augen. Schuhabsätze klapperten über die Stiegen, wurden lauter. Sie bewegten sich unzweifelhaft Richtung Hinterhofgarten. Dann der Auftritt. Ursl, Nadine und eine Handvoll Kinder.
Gilbert hatte die Augen noch immer geschlossen. Ein inniger Wunsch durchflutete ihn. Er wollte verschwinden, sich auflösen.
Einfach abbiegen.

Wegwegweg.

Zu spät.


*

„ ... im Tomatenbeet getrieben, du Nutte ... “, hörte er noch halbdeutlich. Was dann folgte war akkustisch nicht mehr fassbar
Nadine stürtzte sich ansatzlos und mit einer mächtigen Zuccini in der Hand auf Franka während Gilbert im Hintergrund plötzlich U-Boot-Romeo auftauchen sah. U-Boot-Romeo galt als Frankas Haussklave und guter Geist des Kollektivs. Mehrmals wöchentlich tauchte er auf, wie aus dem Nichts kommend, und vollbrachte durchwegs Gutes. Reparaturen, Kinderbetreuung und so Sachen.
Gilbert – noch immer am Boden liegend – hob die linke Hand und deutete auf eine Ansammlung kleiner Menschen. Die Kinder. U-Boot-Romeo verstand augenblicklich. Gemeinsam und so schnell es ihnen inmitten des augenblicklichen Sperrfeuers gelang, sammelten sie die Knirpse ein und trieben sie ins Haus zurück.
Franka und Nadine hatten mitlerweile das Tomatenbeet – aus dem Gilbert gerade noch rechtzeitig geflüchtet war – völlig zerlegt und rollten derb kreischend und wüst ineinander verkeilt Richtung Kräutergarten.

Gilbert und U-Boot-Romeo brachten die Kinder in das erste Stockwerk, legten in atemberaubender Geschwindigkeit ein 60 minütiges Pipi Langstrumpf Video ein und setzten einen 10 Liter Milchtopf auf um Kaukau zu brühen.
Dann ließ Gilbert U-Boot-Romeo – der an einer Gewaltphobie litt – zurück und stürmte wieder die Treppen hinunter in den Hinterhofgarten. Am letzten Treppenabsatz rammte er versehentlich Ursl, die sich gerade auf leisen Sohlen und mit drei Gläsern biologischem Schafsjoghurt aus dem Staub machen wollten. Ursl fiel extrem unglücklich. Eines der Gläser zerbrach direkt unter ihrem Gesäß. Spötterzungen hätten möglicherweise behauptet, dass Ursl diesmal wahrlich – wenn auch kontrolliert biologisch - den Arsch offen habe. Jedenfalls traten ihre Augen wie genmanipulierte basitof`sche Superäpfel aus den Höhlen. Und ihr Mund öffnete und schloss sich nahezu so geräuschlos, wie der eines Weihnachtskarpfens, 10 Minuten nachdem sie ihn aus der Badewanne gefischt hatten.


Gilbert hielt inne. Das hier war der absolute Wahnsinn. Und er basierte- laut Gilbert - auf einer Verkettung dramatischer Missverständnisse.

Kennen Sie das Konzept des „Symbolischen Interaktionismus?“

Nein?

Es geht davon aus, dass der Mensch nicht nur in einer natürlichen sondern auch in einer „symbolischen“ Umwelt lebt. Als ein Wesen, dass den Dingen seiner Umgebung „Bedeutung“ zuschreibt.

Dem liegen drei Prämissen zu Grunde:

Menschen handeln den „Dingen“ ihrer Umwelt - wie Personen, Gegenständen, Ereignissen, Ideen usw. – gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen.

Die Bedeutung dieser „Dinge“ entsteht bzw. wird abgeleitet aus den sozialen Interaktionen, die Menschen miteinander eingehen.

Und diese Bedeutungen werden dann – im Zuge der Auseinandersetzungen mit diesen „Dingen“ – interpretativ benützt und gegebenfalls auch wieder verändert.

So weit so gut.

Irgendwo weiter unten steht dann, dass diese Bedeutungszuschreibungen an subjektive Interpreationsleistungen gebunden sind und darüber hinaus keine stabilen Größen darstellen. Also so etwas wie New Economie Aktien sind.

Und ganz unten ist schließlich zu lesen, dass das Zustandekommen von VERSTÄNDIGUNG zwischen Kommunikator (dem der spricht) und Rezipienten (dem der das hört) vorraussetzt, dass beide idente oder zumindest sehr ähnliche Bedeutungszuschreibungen besitzen. Also von annähernd den selben Dingen ausgehen.

Ein sehr nützliches Konzept eigentlich. Vielleicht ein wenig theorielastig.

Gilbert saß im Stiegenhaus und rauchte Dromedarzigaretten. Im Hinterhof tobte noch immer die Schlacht und von oben drang leise Musik in herunter.

„ ...widiwidiwie-sie-uns-ge-fälllt ...“

U-Boot-Romeo war ein guter Mensch, dachte er. Eigentlich schade, dass es ihm auf Grund des Haussklavenstatus kategorisch verwehrt blieb in Frankas engeren Kopulationszirkel vorzustoßen.

Doch die Gesetze waren streng und unerbittlich.


Manchmal geradezu gnadenlos.


***

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