Monday, March 06, 2006

Zong

Zong

Zong Gui Di wühlte schweißtreibend nach irgendwelchen brauchbaren Überresten.

Doch da war nichts mehr.

Er kniete mit schwieligen Händen und zerrissener, nass-triefender Kleidung auf jenem sonnigen Südhang im Staate Song, wo noch vor kurzem seine Hütte stand. Man schrieb das Jahr 437 vor Christus und das Leben konnte landläufig als durchaus mühseelig bezeichnet werden.

Wie immer in solchen Situationen bestieg Zong Gui Di den sonnenbeschienenen Südhang und stapfte mit wüst gefalteter Stirn und geballten Fäusten auf dessen Spitze, wo sich ein Holzkonstrukt befand auf dem eine Wasserbüffelhaut bespannt war. Von dort hatte er einen herrlichen Ausblick und vor allem Überblick.

Er überblickte den nach Osten mäandernen Yang Tse, dessen Flussschleifen kilometerweit sichtbar, sich schließlich in der Nachbarprovinz Hi Li verloren.

Meist entdeckte er dabei seine Familie, die auch diesmal auf einem Baumstrunk etwa 5 km stromabwärts trieb.

Zong Gui Di betrachtete zähneknirschend die Wasserbüffelhaut, griff dann wie immer zu einer wetterfesten Tinktur – vorwiegend aus Lotusblütenstengeln und Hibiskusblättern hergestellt – tunkte einen präparierten Krähenfuß in sie und ritzte reflektierte Beobachtungs- und Experimentaldaten sowie kontextuelle Kommentare in die ledrige Unterlage.

Diesmal war Zong Gui Di wirklich verstimmt. Die Hauptursache lag hierbei darin, dass er sich ein einer Zeit befand, wo noch niemand so genau wusste, was er von allen Dingen die da passierten, halten sollte und vor allem noch diejenigen fehlten, die solche Wichtigkeiten fieberhaft zusammenfassten, niederschrieben und dem Volke vermittelten.

Alles Denken, Forschen, Erkennen, Dogmatisieren, Verteufeln wie auch Glorifizieren – also jegliche Allgemeingültigkeit fehlte.

Zong Gui Di hatte in diesem periodischen Rausch des Entstehens für sich die große Schule der Bewegung ausgerufen. So ritzte er – nach jeder Erkenntnis die seiner Meinung nach der Bewegung zugrunde lag – alle sein An- und Einsichten sorgsam gegliedert in seine Wasserbüffelhaut.

Nachdem sich Zong zwei Stunden mit Erkenntnissen der Gro0en Schule der Beweung beschäftigt und diese zu Leder gebracht hatte, beschloss er aufzubrechen und seine Familie zu retten. Er sattelte sein Pferd, schwang sich auf dessen Rücken und wartete.

Hier ist anzumerken, dass Zong Gui Di Sympatisant einer Denkschule war, die unter dem Namen Tao um sich zu greifen begann. Eine Vorstellung namens Wu Wei galt darin als Säule und Zong Gui Di hatte sie quasi in seine große Schule der Bewegung übernommen: keine sinnlosen Anstrengungen unternehmen und vor allem nichts tun, was der Dynamik der Ereignisse zuwiderläuft.

Folglich wartete Zong Gui Di in sich gekehrt auf dem Rücken seines Pferdes und hoffte innerlich, dass die Rettung seiner Familie sich mit der Dynamik der Ereignisse anzufreunden begann.

*

„Das war unser 17. Haus und ich kämpfe wahrlich mit einer inneren Schlange die sich zu einem Drachen auszuwachsen droht. Und eines Tages, lieber Mann, könnte dir dieser Drache seine Fangzähne in die Augenhöhlen rammen. Dies, lieber Mann, ist nur so ein Gedanke.“

Zi Gui Di, die Frau Zongs, trottete neben ihrem Mann her, der den Pferderücken nicht verlassen hatte, um keine sinnlosen Anstrengungen zu unternehmen. Die drei Kinder stolperten schweigend hinterher.

„Beruhige dich, Frau“, antwortete Zong. „Die Existenz aller Dinge rührt vom Sein und das Sein vom Nicht-Sein. Wie unser 17. Haus aus dem Sein durch unvorhersehbar unwirtliche Umstände ins Nicht-Sein hinüberglitt, wird unser 18. Haus mit gewogener Kraft aus diesem Nicht-Sein wieder entstehen“.

Zi Gui Di vermied es zu antworten und biss anstatt dessen – aufgrund potentieller innerer Disharmonien – einen Mahlzahn aus ihrem Hintermund, an dem sie eine geraume Weile schweigend lutschte und ihn schließlich in das Flussbett spuckte.

Die Dynamik der Ereignisse haben Zong Gui Di´s Pferd erst nach zwei Tagen zu dessen Familie finden lassen. Sein oder Nicht-Sein: die Kinder waren schwer unterkühlt gewesen und Zi hatte sich eine lästige Nebenhöhlenentzündung geholt.

Zong Gui Di grübelte: das 17. Haus war eigentlich hervorragend ausgelotet gewesen. Südhang, Sonne, Boden, Fruchtbarkeit, Windrichtung – alles verlief konform mit den bisherigen Erkenntnissen der großen Schule der Bewegung. Die Distanz zum fließenden Wasser hatte gestimmt und die Rundung der Flussschleife hatte auch gepasst: 120 Grad, nahezu eine Idealkrümmung.

Der Yang Tse war trotzdem mit vulkanesker Wucht über die Ufer getreten und hatte Zongs Haus, das exakt 20 Meter über dem Flussbett stand, ins Nicht-Sein befördert.

Als die Gui Di´s wieder die Flussschleife erreichten wo einst ihr Anwesen stand, schlug Zong vor ein improvisiertes Lager zu errichten und lud zu innerer Meditation ein wobei er einen freien Mitarbeiterstatus innerhalb der großen Schule der Bewegung in Aussicht stellte. Aufgrund mangelnder Alternativen und völliger Erschöpfung willigte seine Familie ein.

Nach mehrstündigen innerfamiliären, meditativen Verweilens, das Zi Gui Di streckenweise zum Wäschewaschen zweckentfremdete, erhob sich Zong , kniff die Stirn zusammen und zwirbelte hochkonzentriert sein Ziegenbärtchen. Dann schloss er die Augen und presste beide Zeigefinger fest gegen die Schläfen.

Zong Gui Di stand so eine Weile da. Die Kinder saßen schweigend um das Feuer und Zi kochte mitlerweile ein Süppchen. Schließlich nickte Zong zweimal bedeutungsvoll, holte den Topf mit der Lotus-Hibiskustinktur vom Feuer, schob den Krähenfuß in seinen Hosenlatz und erklomm erneut den Hügel um seine Wasserbüffelhaut zu besuchen.

Er kleckste das Leder wie besessen mit Analysen der letzttägigen empirischen Studien voll und am Ende war die große Schule der Bewegung um ein gewichtiges Kapitel reicher. Der Tag begann zur Neige zu gehen und Zong stampfte mit einem Gewinnerlächeln den Hügel hinab um erneut Großes zu vollbringen.

*

8 Wochen dauerte der strategische Haus-Neubau der Familie Gui Di bzw. das Entstehen von Sein aus Nicht Sein. Zong Gui Di hatte in sein Zusatzkapitel noch mehr Parameter, die auf Bewegung Zugriff hatten, miteingeflochten und ein nach außen offenes Bezugssystem kreiert. Die Dramaturgie des Geschehens war nun fundamental der Dynamik der Ereignisse zugesprochen und alle Elemente wurden als gleichwertig behandelt.

Zong hatte seine neue Behausung wieder an der Flussschleife errichtet. Aber diesmal knapp über dem Wasserspiegel.

Philosophisch-okkulte Strömungen waren im China des 5. vorchristlichen Jahrhunderts noch mangelhaft ausgeprägt. Animistisches Allerlei kopulierte mit Spritituell-Religiösem, das sich langsam vom südlichen Indien heraufwälzte. Synergien wurden eingegangen, manches wieder ausgespuckt und weiter Richtung Osten, bis nach Japan gereicht. So gesehen konnte Zong Gui Di durchaus als Avantgardist seiner Zeit und Geographie betrachtet werden.

Zwei Begriffe waren aber schon damals virulent: sie hießen yin und yang.

Yin und yang befanden sich zu dieser Zeit in einem eher primitiv okkulten Deutungsstatus wie kalt/Norden (yin), warm/Süden (Yang) bzw. Erde/Mond (yin) und Sonne (yang). Es waren einfache Richtlinien, die den Menschen halfen einem volkstümlichen Dualismus zu fröhnen, ein wenig Orientierung zw. Himmel und Erde zu erlangen und mglw. die eine oder andere Wechselwirkung zw. den Dingen herauszufiltern.

Allenfalls meinte Zong Gui Di, dass dies zu wenig wäre. Hinsichtlich der Interpretationselastizität gaben die Begriffsdeutungen zu wenig her. Also reicherte er sie mit an mit aktiv/bewegt (yang) und passiv/unbewegt (yin). Später sollte noch mehr daraus werden. Doch alles zu seiner Zeit.

Jedenfalls saß Zong Gui Di nun auf der Terrasse seines neuen Häuschens, zwirbelte sein Ziegenbärtchen und harrte der Dinge die da kommen würden.

Und es kam yin-Regen. Ein passiver, emotionsloser Landregen, der hektoliterweise vom Himmel fiel und in Bälde yang zu werden drohte.

Zong Gui Di hatte alle Vorkehrungen getroffen und das Haus nach seinen Vorstellungen absolut yang-fest gemacht. Ein sonnendurchfluteter Südhang (yangyang) auf dem ein Häuschen still stand (yin). Wenn aber das Sein aus dem Nichts und umgekehrt kam, so musste auch aus yin yang werden können und umgekehrt so wie aus einem einzelnen Mann eine ganze Armee und aus der Schlange ein Drachen werden konnte.

So gesehen war Zong nichts anderes übrig geblieben als sein yin-Häuschen mit einer yang-Option zu versehen.

Das Haus der Gui Di´s galt quasi als state of the art der großen Schule der Bewegung.

Da der Wasserspiegel des Yang Tse stündlich nach oben driftete, empfahl Zong Gui Di seiner Familie das Haus nicht mehr zu verlassen. Die Kinder saßen schweigend um die Feuerstelle und seine Frau Zi brühte ein traditionelles Süppchen. Nebenbei schüttelte sie immer wieder den Kopf und meinte, dass Häuser, die an einer Flußaußenschleife erreichtet werden, purer Schwachsinn seien. Das sei auch nur so ein Gedanke, ergänzte sie. Doch Zong Gui Di erwiderte, die Flußaußenschleife hätte -aufgrund ihres yang-Status – einfach eine größere Affinität zur großen Schule der Bewegung. Sie könne das oben, in den wasserbüffelhäutigen Niederschriften, nachlesen. Es sei alles komplex durchdacht.

In jenem Augenblick, als Zong fertig doziert hatte, erfasste der Yang Tse die gesamte Gui Di´sche Behausung inklusive Bewohner und riss sie in einem so genannten yang-Effekt mit sich. Der Augenblick des Erfasst- und Fortgerissenwerdens verzückte Zong Gui Di derart, dass er mehrmals hintereinander ejakulierte. Einfach so. Dann verlor er die Besinnung.

*

Als Zong Gui Di wieder erwachte reichte ihm seine Frau eine Schale mit frischem Süppchen aus Flussalgen. Seine Kinder saßen wie immer schweigend neben der Feuerstelle und starrten Richtung Westen, wo gerade die Sonne unter zu gehen begann.

„Du hast beim Übergang von yin auf yang das Bewusstsein verloren, lieber Mann, und mehrmals in deine Hose ejakuliert. Ich hoffe es geht dir mittlerweile besser“.

Zong Gui Di erhob sich etwas benommen von seiner Liegestätte, streichelte die Köpfe seiner teilnahmslosen Kinder, atmete tief duch und blickte glücklich um sich. Sein Haus trieb – in sich manifest – auf dem Yang Tse.

Zong Gui Di hatte ein Hausboot gebaut und seine Rechnung war voll aufgegangen. Die große Schule der Bewegung hatte einen Quantensprung vollzogen.

Alle Elementarteilchen in Zongs Körper schwangen hochfrequent im mattgelben Abendlicht. Er fühlte sich leicht wie eine Hühnerfeder in einem Wintergewitter.

„Liebe Frau, liebe Kinder“, entströmte es ihm, „es ist Zeit für ein Liedchen“.

Er griff nach einem prähochkulturellen, alten chinesischen Saiteinstrument, setzte sich auf den Bug seines Hausbootes, blickte in die untergehende Sonne und begann – seinen hochfrequenten Elementarteilchen entsprechend – zu musizieren.

Anfangs improvisierte er, hantelte sich von Fünftonriff zu Fünftonriff, war dabei ungemein experimentell, kippte aber schließlich in einen ¾ Takt, in ein n´tscha n´tscha n´tscha.

Sein Becken schien zunehmend zu oszillieren während seine Kniegelenke immer weicher wurden., die Schulterblätter sich im Ganztakt hoben und senkten und das anfänglich tönende Krächzen in ein rauchiges Vibrato überging.

Ein augenscheinliches yang-Vibrato schien Zong Gui Di zu bewegen.

„Ohhh -, ohhhhhh yeahhh – ohhhhhhhhhhz ye-ahhhhhhhh!!“ (n´tscha n´tscha n´tscha …)

(E) Yes I was born in the country – never been to to-own

(A) Yes I was born in the country – never been to to-own

(H) Lord I´ll never go to a big city-y

(A) wastin my time there

(E) running around (...)

Noch nie dagewesene Laute tönten von der Flussmitte des Yang Tse und Augenzeugen berichteten, dass sie einen Mann sahen, der mit einer Leier in der Hand Unverständliches brüllend, auf einem im Wasser treibenden Haus herumhüpfte, dessen Frau um einen Kochtopf tanzte und von einer handvoll eher unbeweglicher yin-Kinder, die aber in eigenartigen Abständen immer wieder huh-huhhh gröhlten.

Das Hausboot der Gui Di´s trieb in den Sonnenuntergang und die Kunde über die Geschehnisse um die große Schule der Bewegung breitete sich wie ein Lauffeuer über Zentralchina.

Zong Gui Di´s Kenntnisse über die elementaren Grundsätze von Bewegung und Menschsein, in Gesundheit, Glück und Harmonie mit dem räumlichen Umfeld brachten ihm Meisterstatus.

Der Name der Schule mutierte im Laufe der Jahre von großer Schule der Bewegung hin zu Feng (von ursprüngl. Mandarin/ Fing = Körpersaft, Sperma) Shui (ursprüngl. Shu-hi = überraschender Besuch, unerwartetes Aufeinandertreffen). Etwa ab Beginn der Tang Dynastie (618-907) einigte man sich auf Samen der kommt ohne gerufen zu werden.

Die Kunst begann sich zu einem richtigen Boom auszuwachsen.

Hunderte Häuser trieben den Yang Tse hinab.

Manche versanken, manche nicht.

Und Zong Gui Di versammelte scharenweise Jünger um sein Hausboot, die alle jenem Samen nachspüren wollten, der kam ohne gerufen worden zu sein: FENG SHUI

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