Wednesday, July 05, 2006

madagaskar






M a d a g a s k a r


Schicht für Schicht löste sich die Schale seines Selbstbildes wie eine Schlangenhaut.
Am Anfang spürte er Leichtigkeit, begann zu hüpfen und zu springen. Nach
einer Weile des Hüpfens und Springens blickte er um sich und stellte fest,
dass sich die Welt zu entfernen begann.

Nicht, dass er allzusehr an ihr gehangen wäre. Aber dass sie nun so
gleichmäßig von ihm wegzudriften schien empfand er doch etwas billig.
Anfangs zupfte er noch vermeintlich spielerisch an dem einen oder anderen
Ende. Doch er mußte feststellen, selbst als er sich mit aller Kraft
dagegen stemmte: da war nichts aufzuhalten. Die Drift entpuppte sich als
linear und unaufhaltsam - und er selbst verblasste langsam am Horizont.
Oder sie, die Welt.
Je nach dem, welchen Standpunkt man einnahm.

Zurück behalten hatte er nicht viel. Ein paar Klamotten aus den letzten
Jahren, einige anachronistische Kartons mit noch anachronistischeren
Büchern die er glaubte irgendwann mal gelesen zu haben (sicher war er
nicht mehr) - und zwei verstaubte Ordner mit Dokumenten die
offensichtlich - bei Bedarf - seine Existenz legitimieren sollten.

Die Dokumente bestätigten offenbar seine Vergangenheit. Da hatte er dies
getan und einige Jahre später jenes. Keine großen Dinge. Nur Zeugs zur
Alltagsbewältigung. Alte Flugtickets über Reisen an die er sich nicht
mehr zu erinnern vermochte. Mietverträge von Orten an denen er
möglicherweise gewohnt hatte. Photos aus früheren, mehr oder weniger
intensiven Beziehungen deren Motivation oder Prozesse ihm völlig
schleierhaft und absurd vorkamen. Notizen, Aufzeichnungen und
Kurzgeschichten die er fallweise und launisch zu Papier gebracht hatte.
Alles völlig zusammenhanglos und zu nichts Größerem gewachsen.
Wenn das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile sein sollte so war es
bei ihm umgekehrt: Summa summarum wirkte sein existenzielles Ganzes
schmächtiger als sein kleinster Teil.

Lange Zeit beobachtete er nur. Das, was wegdriftete, war ja nichts von
Bedeutung. Ein inhalts- und kontextloses Sammelsurium an vergangenen
Ereignissen. Die Welt eben.
Wenn die Welt augeblicklich Indien war, so schob sie sich gerade unter das
asiatische Festland, hob das Himalayamassiv gegen Himmel, irgendwo in
weiter Ferne,während er mit einem Palmwedelblatt in der Hand impulslos am
Strand von Madagaskar herumstand.

Er hinterließ tiefe Abdrücke im salzig feuchtem Sand.
Wenn er sich ein wenig bewegte namen die Krebse sternförmnig reißaus.


In der Früh peitschte ihn das gleißende Morgenlicht aus seinen Träumen und abends
verschwand es achselzuckend, kommentarlos und dottergelb auf der gegenüberliegenden Seite.
Da war nichts zu tun. Nichts was sich anschickte getan werden zu wollen.
Sollte er eine Palme fällen, einen Einbaum schnitzen und der Welt nachrudern?
Jenem kontextlosen Sammelsurium vergangener Ereignisse, das
Gerüchten nach irgendwo
da draußen, hinterm Horizont, Maulwurfarbeiten
verrichtete?



*

Du mußt ein Urteil fällen. Aus dem Urteil wächst die Moral und aus der
Moral wiederum das Urteil. Sag nicht `man kann das nicht sagen`- denn das,
was du nicht sagen kannst, entzieht sich einer künftigen Moral. Und die
künftige Moral kann nicht zugreifen, auf das, worüber nicht geurteilt
wurde (tse tse lung, ca.480 v. Chr.)


Hätte er einen Superlativ anzubieten gehabt - er hätte die Karte sofort
gezogen: hier mein Superlativ ! er kostet 150 euro plus Mehrwertssteuer
am Tag - book it or leave it. Aber da war nichts. Und was wenn er die
150 plus Mehrwertsteuer bekommen würde? In welche Welt sollte er sie
investieren?

Er lief den Strand entlang und suchte. Geschlechtspartner, Betäubungsmittel,
Nahrung, simple Wahrheit, abstrakte Philosophie - egal, er hätte alles genommen.
Am liebsten Kokain. Mit 150 plus Mehrwertssteuer ließe sich eine respektable
Tagesration zusammenstellen. Dazu ein Tellerchen Pestonudeln und etwas Brennesseltee.
Damit könnte er seinen maroden Kadaver reanimieren und ihn würdevoll in
den Sonnenaufgang stellen. Was auch kommen sollte, er wäre bereit gewesen.
Natürlich würde nichts kommen. Die Welt war ja weg. Aber immerhin: allein
der Gedanke daran faszinierte ihn.

Geologisch betrachtet bestand Hoffnung. Madagaskar folgte dem indischen
Halbkontinent hinterher was die plattentektonische Drift betraf. Er malte
sich den Triumpf aus, wenn - in vielleicht 80 Millionen Jahren - er
Brennesseltee schlürfend am höchsten Berg der Insel sich eine Nase gönnte
und der Welt apokalyptisch berstend in den Arsch fuhr.

Die Zeit verging. Der Strandabschnitt, auf dem er sich auf und ab bewegte
blieb stoisch und unverändert. Er saß da und spielte an einer Kokosnuß
herum. Er dachte an Schicksale von Schiffsbrüchigen. Ein Schiffsbrüchiger
hatte vor allem eines: Hoffnung. Die Hoffnung manifestierte sich(oftmals),
so ihm(dem Schiffsbrüchigen) die Götter gewogen waren, in Gestalt eines
Schiffes. Wenn so ein Schiff am Horizont erschien, begann der
Schiffsbrüchige wild gestikulierend zu hüpfen, zu winken, und zu schreien.
Dann rannte er auf die nächste Erhöhung und entfachte ein Feuerchen,
produzierte so viel als möglich Rauch. Er hüpfte und winkte weiterhin,
rannte möglicherweise wieder hinunter zum Strand, brüllte und
gestikulierte und - ja - hoffte eben, dass der Kutter beidrehte und seinem
Leben eine günstige Wendung bescherte.

Aber die Hoffnung stand auch nur im Verhältnis zu einer existenten Welt,
wo das Erhoffte sich erfüllen konnte oder wo das
Erhoffte jenseits dieser Welt lag. In einem spirituellen Nirvana, in
ewigen Jagdgründen oder monotheistischen Paradisen - ja nach
Glaubensrichtung. Aber entstehen konnte die Hoffnung nur im Gehirn
eines höher entwickelten Säugetiers, dass in einer Welt wohnte, die dieses
Gehirn fütterte.
So gesehen hatte er es gut: keine Welt, keine Hoffnung, keine Ozeandampfer
auf die er warten mußte. Wahrscheinlich nicht mal auf den großen crash in
80 millionen Jahren.

Na ja, vielleicht auf den.

Er legte sich auf den Rücken, streckte Arme und Beine weit von sich, legte
die Kokosnuß auf seinen Bauchnabel und war froh keine Hoffnung zu haben,
die er fahren lassen sollte.

Dort wo er war, vermochte ihn niemand mehr zu drohen, niemand mehr zu
loben, niemand mehr zu trösten, zu umarmen, zu ingnorieren, zu schlagen,
zu belügen. Niemand mehr würde ihn lieben und niemand mehr hassen. Hier
gab es weder Fortpflanzungs- noch Kastrationsprobleme. Keine Faschisten,
keine klerikalen Heuchler, keine kulturlosen Kanonenboot Gorillas die die
Welt beherrschten, keine Hasspredigiger die massenmedial gesteuerte
Kleinbürger auf Lehmhüttenbewohner hetzten, keine sklavenhaltenden
Megakonzerne die sich weigerten Steuern zu zahlen, kein Volk, das es
vorzog sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen anstatt die machtgeilen,
fettgefressenen Bonzen aus ihren Elfenbeintürmen zu jagen, keine sonoren
Oligarchenfratzen die schamlos aus ihren Panzerlimousinen herauslogen.

Alles war verschwunden. Weg, einfach weg.


Nur ein wenig Sehnsucht war geblieben die ihn fallweise irritierte. Eine
unspezifische Sehnsucht. Ein Kribbeln im Magen, immer dann, wenn er den
Strand auf und ab lief und suchte. Es kam schubweise, so ein- bis zweimal
täglich, Manchmal auch einen ganzen Tag lang gar nicht.
Die Welt hatte ihn verlassen. Das mochte problematisch sein und er nahm es
ihr auch noch immer übel, daß sie sich einfach so kommentarlos geschlichen
hatte. Aber mit ihr war auch alles gegangen, daß dieser Welt anhaftete.

*

Tage und Wochen vergingen. Kurzwellig gleißendes Licht löste langwelliges
Licht und dieses wieder das kurzwellige ab. Wahrscheinlich vergingen
Monate, mglw. auch Jahre. Er war sich nicht mehr sicher. Die Kokosnuss lag
noch immer im Sand, manchmal auf seinem Bauchnabel, dann wieder im Sand.

Die wenigen Ordner und Kartons waren verschwunden. Wahrscheinlich
vermodert, vom Salz zerfressen oder ins Meer gespült.

Seine Augen blinzelten wenn er in die Ferne blickte. Das Meerwasser
schimmerte und glimmerte bruchstückhaft im Sonnenlicht. Abends kamen die
Augen zur Ruhe. Es ging ganz schnell hier in diesen Breiten. Dann hörte er
mehr und spürte die kühle feuchte Luft über seinen Körper streichen.

Er wußte schon lange nicht mehr ob er schlief oder wachte. Ob er
rauschhafte Schübe durchlebte oder alltägliche Handlungen verrichtete.
Obwohl er natürlich keine Vorstellung mehr davon hatte wie alltägliche
Handlungen auszusehen hätten war ihm klar, daß er sie wohl nicht
verrichtete. Sie waren eine Metapher für Realität. Für eine greifbare,
existentiell fundierte plakative Wirklichkeit.

Mit einfachen Dingen wie Essen und Trinken. Oder russischem Roulett.

Der Strandabschnitt verlief in beide Richtungen endlos. Zumindest endete
er nicht materiell, also geographisch, sondern mehr oder weniger im
inneren Auge des Betrachters. Er löste sich quasi auf, in einem
Sammelsurium von lichtgequälten Wasserpartikelchen.

Von Zeit zu Zeit flog eine Möwe in dieses Sammelsurium und verschwand.

Im inneren Auge natürlich.

Und dann kamen Sie.


Sie traten aus dieser gleißenden Flimmerwand aus Wasserpartikelchen in den
Panoramablick des Betrachters.

Er hob seine Kokosnuß und schaute. Er schaute lange nach links und dann
lange nach rechts.

Denn sie kamen aus der jeweils gegenüberliegenden Ecke des Küstenstreifens
langsam auf ihn zu. Sie schritten bedächtig voran. Aufrecht und voller
Würde schritten sie. Keiner der beiden blickte sich um. Sie schritten nur
voran, als wär es das letzte was sie jemals noch tun würden. Als sie
endlich stehenblieben lag nur mehr eine Fußballtorlänge zwischen ihnen.

Sie – das waren Mann und Frau.


Die Frau war groß. Vielleicht einen Meter Neunzig. Eine Hünin geradezu.
Der Mann etwa 15 cm kleiner. Mehrer Munitionsketten umschlangen seinen
narbenübersähten nackten Oberkörper und in einer Hand baumelte lässig ein
MAG 70.

Die Frau blickte einige Zeit in die Ferne, wobei sie die Schultern leicht
nach vorne und den Kopf in den Nacken fallen ließ. Sie trug beige
Leinenuntewäsche und Stiefel aus Rinderleder. Sonst nichts. Ihr rotblondes
Haar mäanderte über die Schulterblätter nach unten, bis hin zum
Bauchnabel.
Sie holte eine Flasche Brennspiritus aus ihren rechten Stiefel und ein
Feuerzeug aus dem linken, goß den Spiritus kreisförmig um sich und steckte
ihn in Brand.
Eine Feuerwand erhob sich rund um die Frau.

Der Mann betrachtete etwas verdutzt das Geschehen, trat einen Schritt
zurück und fragte schließlich mit leiser, erstickter aber
erwartungsvoller Stimme:

Don-rou-schän?


*

Es kam ihm vor, als hätte sich die Sonne, kurz nachdem sie abgetaucht war,
nicht mehr vorwärts bewegt. Die Feuerwand loderte gleichförmig vor sich
hin. Und der Typ mit dem Maschinengewehr und den vielen Patronengürteln
stand schone eine halbe Ewikgkeit im Dämmerlicht vor ihm.

Irgendwie kam ihm der Kerl bekannt vor. Er hatte eine starke Vermutung was
sein Gegenüber betraf aber er traute ihr nicht.

Das MAG 70 hing nun ruhig über der linken Schulter.
Seine Augen saßen tief ihm verrußten Gesicht. Die Augenlider hingen weit
in den Apfel hinein und schienen seitlich übermäßig abzufallen. Die
Pupille formte einen am Rücken lungernden Halbmond. Keine Muskelfaser trug
etwas zur Mimik bei.

Irgendwann hob sich sein von Brandnarben zerfurchter Handteller.
Rambo. John Rambo”, sagte der Mann und drückte einmal kräftig zu.
Dann drehte er sich wortlos um, stakste hinüber zur Feuerwand, hielt 5
Schritte davor noch einmal kurz inne, fletschte seine linke Unterlippe zu
einem Suppenteller und stürmte los. Dabei pumpte er langezogene tiefe
Röchellaute durch seinen Kehlkopf.

John Rambo hechtete mit beiden Händen voran durch die Feuermauer.


*

Er hatte es gesehen. Mit eigenen Augen. Seine Hand schmerzte noch immer
und seine Handballen waren voller Rußpartikelchen. Der Typ ist da einfach
hineingesprungen. Durch diese Feuerwand, die irgendwann plötzlich da war.

Was auch immer das hier sein sollte: es hatte nichts mit ihm zu tun. Er
war so froh darüber, dass alles andere bedeutungslos wurde.

Nichts mit ihm zu tun.

Er stapfte mehrmals um die Feuermauer. Es war nichts zu hören und nichts
zu sehen. Die Feuermauer loderte praktisch geräuschlos vor sich hin.
Zumindest geräuschloser als die Brandung. Sie war nur eine etwas okkult
wirkende Lichtquelle am nächtlichen Strand. Er setzte sich daneben und
blickte ins Meer hinaus. Alles war dunkel und düster. Nur die Gischt
zischelte rythmisch vor sich hin.

Don-rou-schän. Das klang so wie ik abe eine Koför in Börlin.

Er musste grinsen.

Dann schlief er ein.


*

Langgezogene, tiefe Röchellaute weckten ihn am nächsten Morgen.
Nachdem er zuvor meinte einen dumpfen Knall gehört zu haben.

John Rambo lag wenige Meter von der Feuermauer entfernt im Sand.
Das MAG 7O war verschwunden. Er blutete aus mehreren Rissquetschwunden.
Sein Nasenbein schien gebrochen zu sein. Das Jochbein ebenfalls.
Die linke Augenbraue war durch ein zweifingerdickes Cut aufgerissen aus dem stoßweise Blut quoll.


John Rambo blieb so eine Weile liegen. Er röchelte tief und langezogen,
verstummte kurz, verspannte seinen Körper zu einer zittrigen Masse und röchelte weiter.


Irgendwann schob er seine blutigen Finger in eine Hosentasche, holte Nadel und Zwirn heraus
und begann seine erste Rißquetschwunde am linken Oberarm zu nähen.
Die Unterlippe blähte sich dabei zu einem Teller auf, fiel wieder zusammen und formte
kleine Speichelpools während der langezogen-tiefe Röchellaut fallweise abrupt abriss
um sich gleich wieder martialisch aufzubauen.


John Rambo röchelte, blutete, und nähte seine Wunden.
Die einzige Unterbrechung waren Liegestütze auf einer Hand, die er im Dutzend
spontan herunterpumpte. Manchmal rissen dabei schon vernähte Wunden wieder auf.


Das ging Tage so. Wenn nicht Wochen.

Der Tag an dem John Rambo zu weinen begann war ein sonniger. Anfangs hatte es niemand
bemerkt. Doch als sein Weinen in ein Heulen und später dann in ein erbarmungsloses
Schluchzen überging, ist es ihm aufgefallen.


MA-AG, wimmerte John anfangs, streckte seine blutigen Hände Richtung Feuerwand,
brach zu Boden, krallte seine Finger in den Sand und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.

Später entwickelte sich daraus MAG, MAG – Doun-rou-schän - MAG, MAG.

Er saß da im Sand, die Kokosnuss zwischen den Beinen und betrachtete das Schauspiel.
Es hatte sich nicht allzuviel verändert. Der Strandstreifen, das gleißende Licht, die Gischt.
Tag und Nacht. Die Kokosnuss. Man konnte von stabilen Verhältnissen sprechen.
Angereichert durch eine kreisrunde Feuerwand und einen darniederliegenden Mann.
Aber letztendlich haben sich beide nahtlos eingefuegt.


John Rambo blutete, weinte, nähte seine Wunden, röchelte, pumpte Liegestütze auf
einer Hand, verspannte seinen Körper zu einer zittrigen Masse und blutete weiter.


Manchmal flogen Möwen tief über ihn hinweg.

Und selbst die Krebse hatten sich schon an ihn gewöhnt.

Er lehnte sich zurück und blickte gegen Himmel. Eine fette, schwarze Wolke
stand direkt über ihn. Sie war angenehm fürs Auge.

So wunderbar dunkel.

MAG, MAG – Doun-rou-schän – MAG, MAG.

*

Seit einiger Zeit hatte John Rambo aufgehört Liegestütze auf einer Hand herunterzupumpen.
Er nähte auch keine Wunden mehr. Er lag nur noch im Sand, und machte sich akkustisch
ein wenig bemerkbar. Doch auch das nahm sukzessive ab, bis er schließlich nur mehr
regungslos da lag und mit seinen am Rücken lungernden Halbmondaugen apathisch ins Meer blickte.


Er schien auch zunehmend zu schrumpfen und zu verfallen. Seine Arme wurden dünner,
sein Oberkörper verfiel langsam zu dem eines Asthmatikers und seine Hose verhüllte
immer verschämter die darunter liegenden Flamingobeine.


Als John Rambo schlussendlich massiv einem Stück Dörrobst zu gleichen begann,
wagte er sich das erste mal nahe an ihn heran. Aus einer Armlänge Enfernung erschien
der verschrumpelte Körper wie luftgetrocknet. Alles Blut und Tränen waren im Sand
versickert als wären sie niemals aus Rambos Körper ausgelaufen.
Der Boden hatte John Rambo richtiggehend ausgesaugt.


Er stubste ihn an der Schulter. Sie fühlte sich hart und ledern an.
John Rambo zeigte keine Reaktion. Er legte seine Arme unter Rambos Kniekehlen
und die Achseln und hob ihn hoch. Rambos Augen waren nur mehr einen spaltbreit geöffnet
. Ansonsten glaubte er, ein Stück Karton in den Armen zu halten.
Fallweise schloss Rambo die Augen völlig und öffnete sie unendlich langsam wieder einen spaltbreit.


Er begann mit John Rambo am Arm den Stand auf und abzugehen.
Er versuchte sich an Kinderlieder zu erinnern. Aber es fielen ihm keine ein.
Also summte er irgendeine Melodie, verlor sich in unscharfen Halbtönen
und einer erbärmlichen Rythmik. Er trug John Rambo jeden Morgen und jeden
Abend am Strand auf und ab. Und John hatte große Freude daran.
Um die zu zeigen öffnete und schloß er die Augen etwas schneller als sonst.

Nach der Abendrunde legte er ihn immer nahe an den Feuerkreis, damit er es schön warm hatte.

Doch es nützte alles nichts. John Rambo wurde weniger und weniger, schrumpelte und vertrocknete,
schrumpfte und verdörrte Und eines Morgens war John verschwunden.
Noch am abend davor hatte er ihn wie gewohnt zum Feuerkreis gelegt.
Aber John war nur mehr sehr klein gewesen, vielleicht so groß wie eine mittlere Puppe.
Möglicherweise war es Funkenflug und John hatte Feuer gefangen.

Die Nacht war stürmisch gewesen und er suchte noch stundenlang nach irgerndwelchen Spuren
aber er konnte absolut nichts mehr finden.


Der Wind hatte Johns Überreste einfach weggeblasen.

*

Ich glaube ihnen, dass sie das denken was sie sagen. Nur, würden sie etwas anders denken,
dann säßen sie nicht hier.
(Noam Chomsky)


Die Welt bot Öffentlichkeiten, wo Meinungen geäußert werden konnten.
Und sofern mensch das Richtige dachte, konnte er auf ein mehr oder weniger
großes Podium klettern und sein Denken öffentlich machen.
Im Kreise erlauchter die auch alle das Richtige dachten.


Dann saßen die Richtigdenker beieinander und besprachen alles.

Aber richtig.

Er vermisste die Kokosnuss. Möglicherweise war sie gemeinsam mit John verschwunden,
in dieser stürmischen Nacht. Oder zuvor oder danach. Jedenfalls war sie weg.


Er ließ seinen Blick entleert über die Feuermauer streichen.

Möglicherweise war er eine Form materieller Vergangenheit dieser
Welt, einfach aus ihr herausgebrochen, wie einst der Mond.

Er wußte einzig und allein was er nicht war und konnte nur vermuten was er sein mochte.
Vielleicht war die Erkenntnis dessen, was er nicht war, auch nur eine Vermutung.
Aber zumindest eine starke.


Wie er sich auch wand und krümmte – es führte offenschtlich kein Weg vorbei:

es war Zeit einen Entschluss zu fassen.

*

Im Gegensatz zur weitverbreiteten Annahme enthüllt die sorgfältige Untersuchung
einer Beobachtung vor allem die Eigenschaften des Beobachters.
(Francisco Varela)


Er stand jetzt genau dort.
Mit nichts mehr als einer wetterzerfressenen, löchrigen schwarzen Short um die Hüften.
Er konnte gerade noch den Feuerkreis herüberschimmern sehen und wenn er in die
entgegengesetzte Richtung blickte, so tat sich ein neues Sammelsurium von Wasserpartikelchen auf.

Dort, wo der Strandabschnitt im inneren Auge geendet hatte, begann er also von Neuem.

Er tat sich schwer. Stand lange Zeit da und dachte nach. Blickte abwechselnd
Richtung neuem Sammelsurium und Feuerkreis. Zeitweise umspülte die Flut
seine Fußgelenke und Krebse knabberten an seinen Zehen.


Eines Tages, als die Sonne im Zenit stand, begann er loszulaufen.

Anfangs trabte er beschaulich dahin, steigerte sich aber mit jedem Schritt und erreichte
nach kurzer Zeit ein Höllentempo. Er rannte wie er es noch nie getan hatte.
Und er rannte dorthin zurück wo er hergekommen war.


Sein Atem ging stoßweise, sein Verstand ebenfalls.
In seinen Augen spiegelte sich ein rasch anwachsender Feuerkreis.


Wenn sein Verstand eine naturhafte, zum Zweckte der Selbsterhaltung abgezweigte
psychische Kraft war, dann besaß er keinen.


Das, was stoßweise unter seiner Schädeldecke arbeitete, war viell. nur ein Instinkt.
Ein komplexes Muster von angeborenen, genetisch übertragenen Verhaltensweisen.
Oder es war gar nichts. Da war nichts innerhalb dieser Schädeldecke und
folglich auch nichts außerhalb dieser Schädeldecke.


Oder andersrum: das vom Innerhalb produzierte Außerhalb war allenfalls so jämmerlich,
dass das Innerhalb beschloss die Produktion einzustellen.


Und so hob er ab, ohne MAG und Verstand, beide Arme weit seitwärts, wie ein Albatross.

Meterhoch stand er kurz in der Luft über jener bizarren Waberlohe.

Ein kurzes Freeze, ein endloser Moment.

Dann fiel er.

Wie ein feuchter Erdklumpen.

Nach unten.



* * *























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