Tuesday, March 22, 2005

warum?

Warum ?


Warum nur? Warum mußte es dieses kleine Holzhaus, hinter der großen Gebirgskette sein?
Waren nicht genügend andere Holz- und Bauern-, Zweit- und Blockhäuser im Angebot gewesen? Aber ja, ja. Hinter der großen Gebirgskette war natürlich alles billiger. Viel billiger.
Darum fuhr ich jetzt auch auf die große Gebirgkette zu.
Deshalb
. Na klar.

Aber gut, gut. Ursprünglich war das natürlich nicht so gedacht gewesen. Also eigentlich wollte ich die Stadt nie verlassen. Wozu auch? In der Metropole gab es alles, was der Mensch benötigte. Arbeit und Geld. Kultur und Unterhaltung. Nacht- und Tagleben. Kauf und Rausch. Anonymität.
Und natürlich, last but not least: die Kunst. Oh, ja. Besonders die. Sie durchzog die Stadt wie eine Seidenraupe, lauerte an allen Ecken, um einen zu umgarnen, zu verführen und emporzuheben, in das Reich impulsiver Sensibilität. Oder manchmal auch darüber hinaus. Und im Bereich der impulsiven Sensibilität(bzw. dahinter) erntete ich meine Scheine. Deshalb, aus all diesen Gründen: Hut ab vor dem häuserbepflanzten Betonteppich, der nachts leuchtet.
Aber nun schluß, schluß.

Es wurde mir klar, neben all der Betonteppichhymnen, daß einige Quadratmeter Grünland mein Wohlbefinden heben würden. Ich war jetzt Anfang 40 und hatte die schleichende Vermutung, die Passstraße langsam nach unten zu fahren. Es heißt zwar, daß man das mit dem selben Gang macht, den man zum Hinaufklettern verwendet, doch ab jetzt herrschte primär eine Sorge: nicht zu schnell zu werden. Hört man.
Nur, daß dies eine unabdingbare Notwendigkeit sein sollte, auf die Bremse zu steigen, schien mir nicht einleuchtend. Kontrolliertes Tempo versus notorisches Bremsen. Also muß man den wirklich immerzu alle Begriffe in den Fruchtsaftmixer stülpen? Blos um den Einheitsbreirotor aufzugeilen? Ich hatte einfach nur das Gefühl, zu wissen was mir gut tat. Immer der Situation angepasst. Wenn es augenblicklich Grünfläche hieß, nun, dann war es eben das! Vielleicht hieß es morgen Helikopter, und - warum nicht - mit 60 Brandungswellensurfen.

Immerhin - augenblicklich ging es aufwärts. Ich genoß es, Kehre für Kehre nach oben getragen zu werden während links und rechts die wachsenden Schneefelder wie eine Ansammlung hingerotzter 500 Watt Scheinwerfer leuchteten. Der Himmel war blau, die Luft kalt und klar und der Zigarettenanzünder glühte nach 10 Sekunden, wann immer ihn jemand in seine Vorrichtung stupste. Ich war mehr als zuversichtlich.
Schön, schön.
Ich ließ mich nochmals kurz in eine reflexive Reflexreflexion fallen, sozusagen als Absicherung, Stärkung und Belebung dessen, was auf mich zukam.
Also: Warum tat ich das was ich tat?

Na weil die Preise günstig lagen. Und ich offenbar Grünfläche brauchte. Und günstige Preise plus Grünfläche gabs eben hinter der großen Gebirgskette. Und deshalb fuhr ich da jetzt hin, als ernsthafter Interessent der ein erkanntes Bedürfnis zu befriedigen suchte und sich aller Rahmenbedingungen im klaren war.

Wohlan, wohlan.
Das war die Probe zum Rechenschritt. Der Balanceakt zwischen warum und darum. Das Yin Yang meiner Innenwelt.

*

Es war wunderbar, wunderbar.
Ein schlichtes, zweistöckiges Holzhäuschen. Das Fichtenholz war im Laufe der Jahre in Ehre pastellfarben nach unten gedunkelt und strahlte wohlig warm in den späten Spätherbstnachmittag. Keine Nachbarn, nur Wald und Wiesen-, bzw. richtiger gesagt: Almflächen. Ein Idyll per Excellance.

Doch dies war nur der erste Blick. Der nächste Schwenk galt Tatjana.

Tatjana.
Ich hatte sie Anfang der 90er für etwa ein Jahr lang gemanagt. Sie ist Solo-Performerin. Also das stimmt eigentlich nicht, obwohl TAT/J Orbit - in allen Posen,
Formationen und Erscheinungen - immer nur aus irgendeinem Konterfei-Mix Tatjanas bestanden hat..
Tatjana trat damals mit einer intelektualisierten Sadomasonummer auf, wobei die undankbare Rolle des Masos einem portugisischen Cellisten namens Enrique zugeschrieben war. Enrique war überaus unkompliziert und befolgte seine Order, sich sinnlich-euphorisch in Alban Berg Klangwelten zu ergehen während Tatjana ihn dabei launisch mit lackierten, aus Draht gebogenen, kopfgroßen Goldbuchstaben bewarf, ohne Widerspruch. Auch die Szene, wo Tatjana ihm sein Cello ausspannte, indem sie sich über eine 8 Meter lange Bühnendiagonale lasziv kriechend zu diesem hinleckte, ihre Zungenspitze durch eine künstlich angebrachte Öse am Cello fädelte und das ganze Ding dann extatisch aufzusaugen begann, quittierte Enrique jedesmal in danksagender Mine mit einer mehrminütigen Hintergrund-Tanzperformance, die hauptsächlich aus Tango- und einigen New-Dance-Elementen bestand. Das beide schlußendlich nackt, vor einer Struwelpeterausgabe in dialektalcrashenden Logokrüpploiden - wie sie Tatjana zu nennen liebte - endeten, das Buch szenisch anspielten, konterkarrierten und sich schließlich in abstrakten Hymnen an die Grabsteine geschriebener Wörter ergingen, war wohl der Grund, warum sich das Ding so gut verkaufte.

Ja, ja.

Die Schlußsequenz lief dann auszugsweise etwa so(Struwelpeterausgabe - eine Armspanne von ihnen weg - aufgeschlagen, sie beide in amphibienartigen, geknechteten Verrenkungen, halb stöhnend, halb betend und zwischendurch geradezu beschwörend ...)

Sie: So laß`uns fluschen, durch das Quadrat der löchrigen Suppenzwetschke; mein saugsamer Phasenderwisch.!
Er: Dem Teller, so flach sein Musitschek auch sein mag, leck ich das Pischilatschki, bis meine Krummsäbelkreuze sich aneinanderwetzen.
Sie: Maria war`s, diese dekaloge Braut der Zivlinskymühle, deren Odem des Haschhasch die Mäuler aller Hungrigen in Nixstopf-stase versetzte.
Er(in sich verschlungen, zu einem Bündel, schildrötenartig am Rücken liegend): Schwanensee - ! - lebt frei nach dem Klauendarwinismus sphynxischer Schrumpfceribratzkis. Und die Urgroßmutter des Präsidenten platzierte ihren Klaufix genauso derb, als wäre es der Sand dieser Erde oder ein Poflipuff auf dem Balkon einer Kleingartensiedlung.

Mein Gott, mein Gott.

Diese Art von Doppelkonference wollte kein Ende nehmen. Obschon mein Kunstbegriff durchwegs konziliant ausgerichtet war, fehlte mir der Zugang zu Tatjanas TAT/J Orbit Eskapaden. vollends.

Und nun stand sie da, nach acht langen Jahren, mit silbergrauem Kurzhaar, goldglänzender Plastikwäsche und bewarb sich für dasselbe Stück Grünland wie ich.

*
”Johannes Gruber, du alter Kulturschnüffler! Sind dir auch die Abgase durch die Stirnhöhlen entwischt? Ab in die Weichmasse darüber? Alles mal entlüften? Generalservice vor der letzten Etappe?”
”Carlito” - hieß die mediterane Hand, die mir an der Seite Tatjanas entgegenwuchs.

Warum nur? Der Sonnentag, der sich behutsam und elfenbeinturmartig nach oben geschraubt hatte, ließ mich ohne jede Vorwarnung von der azurblauen Wolke 17 in die seit 30 Jahren ungeleerte Jauchengrube eines burgenländischen Schweinebauern klatschen.

Der zuständige Bauer war gleichgültig und überfordert. Seine Frau hatte uns nur ein kurz aufgesetztes Zähneblecken (inklusive massig freiliegender Zahnfleischberge) geschenkt und war gleich wieder im Wald verschwunden, wo sie weiß der Teufel was zu tun hatte.

”We nid de place forrr expirrrimental drramaturgia and conceptschan ”, bemerkte Carlito lakonisch. Der Bauer nickte in ein schwachsinnniges Grinsen hinein und deutete Richtung Mietobjekt.

”Flusch dir ein Nischnick und häng den Hosenlatz in den Wind, auf daß der Nelkenduft durch die Landschaft der Zylinderköpfe streicht, du stahlgetriebenes Netz aus Marzipan.”

Tatjana hatte sich die letzten Jahre offensichtlich auf dialektalcrashende Logokrüpploiden spezialisiert, die - so der Wunsch - in jungfräulich- wie natürlichem Ambiente experimentell dramatisiert und konzeptioniert werden sollten.

Der Bauer wollte 3.000 Schilling. So, so.

Hinter seinem knorrigen Rücken türmte sich die hohe Gebirgskette, wobei die Fichten zunehmend lange Schatten zu werfen begannen. Der Himmel war auch nicht mehr azurblau sondern mitlerweile weißgrau mit einem Braunstich. Und die Außentemperatur, die einen sommerlichen Spätherbstnachmittag vorgetäuscht hatte, verfiel minütlich nach unten und drohte - so sie diese Geschwindigkeit beibehielt - kaukasische Dimensionen zu erreichen.

3000 Schilling. ”Obn”, wie der Bauer anmerkte. ”Untn” kostete 2.500. Jeweils mit Küche, Duschkabine und Toilette.

Carlito hatte sich mitlerweile auf den fast senkrecht abfallenden Hang hinterm Haus platziert, wo er mit weit abgespreitzten Gliedmaßen und solaplexuszentrierten Kammertönen offensichtlich Möglichkeiten der experiementellen Dramaturgie und Konzeption auszuloten versuchte.
”Meine süße Kammerschnecke”, hauchte Tatjana in Richtung Carlito, nahm meinen Ellebogen, und zerrte mich sanft Richtung Mietobjekt, wobei sie den Bauern in seiner archaischen Derbheit einfach stehen und grenzenlos verwirrt zurückließ.

An der Schwelle zur Haustüre hielt Tatjana kurz inne.
”Ist es nicht schön hier ?”, sagte sie voll innbrünstiger Lieblichkeit. Wie ich es noch nie zuvor von ihr gehört hatte. Dann trat sie mir mit aller Wucht in die Weichteile.



”Du dreckiges Arschloch, du nickelbrillentragender Schisma-Hurenbock. Der Arsch deiner Mutter soll in friesischen Frikadellenfett bruzeln, du schneebrunzendes Stück Scheiße. Wo sind meine 12.000,-- - du gehirnamputierte, eiternde Weichmasse. `Rück sofort die Kohle `raus, oder ich nagel deine Eier an die Dreckshütte dieses blut- und bodengeilen Schwindsüchtigen, damit er einmal sieht was Inviromental Art sein kann, duuu.....”

Derweil die kaskadenartigen Beschimpfungen über mich hinwegfegten, hatte ich bereits den halben Fuß des Türstocks zerbissen, während meine Hände das Hagelgewitter an Schlägen, Tritten und Kratzattacken verzweifelt abzuweheren versuchten.
Als die ärgste Sturmflut vorüber zu sein schien, hatte ich eine Visitenkarte im Mund stecken und eine Botschaft im Ohr: ”Du hast eine Woche, mein stinkender Wüstenbastard. Dann fluscht mehr als nur eine Mäusemietze über das Gaschgasch deiner flagrantösen Armseligkeit. - ciao.”

Carlito folgte ihr mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit. Die Autotüren krachten, weg waren sie.

Der Bauer stand noch immer wie ein Wildschweineber am Fuße des Hanges, an dem Carlito die experimentell-dramaturgischen Möglichkeiten von Inviromental Art angetestet hatte.
Seine Arme hingen weit nach unten und seine hackbrettartigen, schwieligen Hände waren von mächtigen Adern durchzogen.

*

Es war schwer zu leugnen: ich befand mich augenblicklich in einem Bereich impulsivster Sensibilität(mglw. schon dahinter), wenn auch nicht in urbanen Gefilden. Zumindest was Haut, Knochen und den Rest meiner physischen Wenigkeit betraf. Die Theorie ”Jenseits der 40” werde ich wohl relativieren müssen. Zumindest was den Bereich bergauf/bergab betraf. Hier ging es nicht um ein Beschleunigen oder Verlangsamen, nicht um mögliche Bremsmanöver oder etwaige kontrollierte Geschwindigkeitsdosierungen. Nein. Irgendjemand muß wohl das gesamte Bremssystem entfernt haben. Hat mir mein Körper geflüstert. Die Psyche war noch zu keiner Stellungnahme bereit

Der Kellner im Gasthof zur Passhöhe, am Rücken der großen Gebirgskette, hatte mir den doppelten Schnaps und eine Flasche Bier wortlos auf den Tisch geknallt und sich wieder hinter die Bar verdrückt, wo er die offensichtlich konspirativen Gespräche mit zwei Ortsansässigen weiterführte.

Wenn das der Auftakt zu Grünfläche war, wie würden sich dann Helikopter und Brandungswellensurven anlassen? Wie sollte ich als ernsthafter Interessent ein erkanntes Bedürfnis befriedigen? Und wie war das mit der Klarheit der Rahmenbedingungen? Und wohin war dieser unselige portugisische Cellist mit dem letzten Scheck Tatjanas abgetaucht?

Warum glaubte ich eigentlich mein Leben anreichern zu müssen? Mich mit derbschlächtig ruralen Eingeborenen zu umgeben? Was hatte deren klerikalfaschistisches Wohlbefinden mit dem Yin und Yang meiner Innenwelt zu tun? Warum zum Teufel schloß ich eigentlich von Tatjanas unkontrollierbarem Gefühlstschernobyl auf die Unsagbarkeit ländlicher Ausdrucks- und Artikulationsformen? Wer war ich eigentlich? Und vor allem: wer zum Teufel waren die anderen?
Ich beschloß unendlich kurzfristig, mich grenzenlos zu besaufen. Zu diesem Behufe bestellte ich nochmal dasselbe. Ich spülte die Säfte hinunter und blickte schwermütig durch den Schankraum.Das konspirative Trio erkannte sofort: der komische Fremde blickt schwermütig durch den Schankraum. Der komische Fremde war offensichtlich komisch. Eigentartig war er, der eigentartige Fremde.

” 142 Schilling. Wir sperr´n zu”. Da stand er, wie aus dem Nichts gekommen. Obwohl ich nur einige Sekunden gedankenverloren aus dem Fenster geäugt hatte. Seine Arme hingen weit nach unten und seine Finger waren so dick wie Weißwürste. Das Gesicht glänzte prall und rot, der Bauch wölbte sich sattsam über die Gürtelschnalle und der hellbraune Schnurrbarrt ging nahtlos in die Nasenlochbehaarung über. Während er auf das Geld wartete, sah er an mir vorbei, in die dunkle Nacht hinaus.

Das war´s!



Meinesgleichen waren hier jenseitig fremd. Hier war eigentlich alles jenseitig fremd, was nicht von hier war. Und von hier war nicht viel. Und die Menschen hier hatten nichts gegen Fremde, solange die Fremden von hier waren. VON HIER.
.
Ich zog eine Pistole und feuerte wie wild durch den Raum, Jonny Walker und Bourbon Flaschen splitterten auf die Schank hinunter, die Puntigammer Bierzapfsäule und der Bauernstubenluster folgten. Ein Querschläger bohrte sich durch die prallroten Weißwurstfingerbacken und trat durch den Schnurrbart wieder aus. Alles, einfach alles zerbarst im Kugelhagel bis sich schließlich die letzten Kadaver in ihren eigenen, heimatlich-vertrauten Blutlachen krümmten. Dann öffnete ich wieder die Augen. Ein kurzer, ein wunderbarer Traum.

Ich stand auf, verabschiedete mich höflich und fluschte mein Pipmik durch den Saugnapf des Unseligen.

***

Sunday, March 06, 2005

m´amour

M´amour

"Und glaub mir, ES kann Berge versetzen. Es kann unsere Liebe transzendieren. Und die Gesetze der Physik aufbrechen. Wenn es in meinem Handballen ruht, und ich langsam die Finger zu einer Faust zusammen balle, erfasst mich seine Kraft und trägt mich hinweg. Als wäre alles andere, das vorher geschehen ist, ohne jede Bedeutung. Dann kann ich sein, was immer ich sein will. Und manchmal sogar ein wenig mehr."

Pascal legte seinen Arm sanft um Sophies Schulter und schloss dabei kurz die Augen, um die gemeinsame Verbundenheit zu verdichten. Dann schlossen beide die Gurte ihrer Fallschirme, setzten sich nebeneinander in die Ausstiegsluke und deuteten dem Piloten ruhig Kurs zu halten.

"Und du bist dir ganz si-scher dass es fünk-züo-niert? Isch meine, bist du dir wirklisch ganz si-scher?"

"So sicher, wie alles, das hinter uns liegt bedeutungslos sein wird. Wenn die Kraft, die mich fort trägt unsere Liebe erfasst und wir gemeinsam in das transzendente Reich der Metaphysik eintauchen, wird Sicherheit als Parameter der Lebensgestaltung ausgedient haben. Wie zwei fussionierende Sternschnuppen werden wir wegtauchen in eine neue Dimension."

Pascal nannte ihn m´amour. Den taubeneigroßen Stein eines ewenkischen Schamanen., einst von einer transsibirischen Reise nach Hause gebracht. Die Ewenken sind eine kleine tungusisch sprechende Gruppe von Jägern und Rentierhaltern in Sibierien. Das ist deshalb von veritabler Bedeutung, da das Wort Schamane aus dem tungisischen stammt und Pascal ein Mensch war, der ausnahmslos zu den Wurzeln der Dinge vorstieß. Denn dort lag seiner Ansicht nach die wahre und unverfälschte Kraft des Authentischen. Alles was den Wurzeln folgte, war ein Sammelsurium an Interpretationen. Die fortlaufende Tragödie einer Stillen-Post-Kultur. Deshalb die Ewenken und nicht amazonische, nordamerikanische oder indonesische Schamanen.

Seit Pascal mit m ´amour durchs Leben schritt lief alles wunderbar. Er traf Menschen, die er vorher nicht zu treffen gewagt hatte. Und erreichte Ziele, deren Existenz ihm zuvor nicht einmal bekannt war. Pascal hatte mitlerweile eine Art von feinstofflicher Lebensweise erreicht, um die ihn sein gesamtes Umfeld beneidete. Wenn Pascal auftauchte, wurde alles weich und sanft. Und wenn er Puh Er Tee zubereitete und von der kultischen Unberührtheit der Ewenken erzählte, liefen Tränen der Freude und Überwältigung über die Backen seiner Gäste.

Pascal war dem grautönenen Realismus entflohen.
Pascal war Visionär geworden.

Und gerade das machte ihn aus: als Visionär vermochte er die Realität zu verändern. Im Gegensatz zm Realisten, der doch nur bestenfalls der gegebenen Realität mehr oder weniger erfolgreich zu trotzen vermochte.,

Noch einmal fassten sich Sophie und Pascal an den Händen. Dann sprangen sie in die Tiefe.


*

Pascal hatte zwei Spezial-Walky-Talkies besorgt, um spontan emotionalen Mitteilungsbedüfnissen während der Talfahrt nachkommen zu können.,

Als Sophie es mit "Pascal, Pascal, isch spüre so ein Brennen, wie `eisses Feuer ´in zu dir" versuchte, stellte sich heraus, dass der Funkverkehr bei 230 km/h Fallgeschwindigkeit nicht wirklich rauschfrei war.
Pascal steckte daraufhin beide Arme zur Seite und krätschte die Beine. So drosselte er sich selbst auf etwa 180.
"Sophie, mein Honigmund, du Herzapfel meines ontologischen Inneren! Wie weit und nah du auch sein magst, lass unsere Herzen fliegen, lass ihnen freien Fall". Dann krümmte er sich zusammen und tauchte weg, wie ein Albatross in den warmen hochströmenden Abendwind vor einer atlantischen Seitlküste.

An Sophie waren die Worte im wahrsten Sinne vorbeigezogen. Bei dem Versuch irgend etwas akkustisches aus dem Funkgerät heraus zu holen, war ihr das Ding aus den Fingern geglitten.
"Mon dieu, Pascal !" brüllte sie, "isch kann nischt mehr `ören!!"
Sophie brülle es Richtung Pascal, ihren geliebten Albatross, der mit großen, gewaltigen Schwingen nach Westen tauchte. Sein Endorphinausstoß war exorbitant. Noch nie hatte sein Körper so viel Opium produziert. Er griff nach m´amour, der von allem unbeeindruckt um seinen Hals baumelte. Seine Finger schlossen sich um den ewenkischen Talismann, ein kurzer kräftiger Zug und das Lederband war gerissen, Jetzt ruhte m´amour ganz weich und sanft in Pascals rechter Hand und verlieh ihm quasi einen Ikarus-Turbo.
Pascal fing an lässig zu kraulen, dazwischen ein wenig Delphin, dann zwei kräftige Bruststöße und schließlich rollte er sich gemächlich auf den Rücken. Pascal drückte den Knopf am Funkgerät und hauchte: "Sophie, oh Sophie mein Augenstern, - ich transzendiere":

*

Sophie hatte tiefe Sehnsucht dannach, das zu sein, was sie schon immer sein wollte. Wenn es sogar ein wenig mehr sein würde - warum nicht? Augenblicklich war sie etwas, von dem sie noch nicht genau wusste, ob es das war, von dem sie schon immer geträumt hatte. Aber mit über 200 Stundenkilometern Richtung Erde zu segeln, war allenfalls mehr, als etwa im Glashaus zu stehen und Stecklinge zu setzen.
Wohin es führte war klar: rasend nach unten. Noch ein wenig mehr nach unten fand sie momentan zwar etwas übertrieben, doch inverse Ansätze vermochten oftmals das positive Gegenteil zu produzieren.
Eigentlich wollte Sophie ursprünglich Botanikerin werden. Genauer gesagt: Subtropen-Botanikerin. Mit einem großen Blumen- und Pflanzengarten auf Madeira. Zum Beispiel. Dass sie im Moment der offensichtliche Versuch nach dem was-immer-schon-und-mehr hin zur Talsohle des Wr. Neustädter Industrigebietes führte schien anfangs belangslos. Nun begannen sich aber von Mikrosekunde zu Mikrosekunde Zweifel aufzutun. Dem Territorium, dam sie sich so voll offensichtlicher Hingabe näherte, fehtle irgendwie das Elysische. Und nicht nur das: Sie erinnerte sich an keine einziges Elaborat lyrischer Poesie, das sich mit dem Wr. Neustädter Industriegebiet befasst hätte. Kein einziges.

Dies schien aus musischer Perspektive eher bedenklich. Gut, was waren schon musische Perspektiven. Purer Kauschuk - sonst gar nichs. Dehn- und biegbar, je nach nach Standpunkt. Doch plötzlich gesellte sich, wie aus heiterm Himmel, ein zweiter Gedanke zur Kautschukmasse. Ein völlig anderer. Einer aus der Vergangenheit.
Gymnasium. Physik. Oberstufe. Newton.

Gravitationsgesetz. Fg = mg. Mit Pfeilen oben drauf. Dass jeder Körper gravitativ beschleunigt. Zum Erdmittelpunkt hin.

Das war eingetreten. Absolut. Bis jetzt hatte sich die Physik keine Blöse gegeben Das transzendente Reich der Metaphysik war schwer im Verzug Zähne zu zeigen. Sophie erinnerte sich an ein naturwissenschaftliches Gerät, das die letzten 12 Sekunden gleichmütig an ihrem rechten Handgelenk verbracht hatte. Es hieß Höhenmesser. Sophies blicke furchten mehrmals über das Display des Geräts.
Sollte es tatsächlich der Fall sein, dass die Physik die Nase vorn behielte und die Metaphysik auf die Plätze verwies, so würde Sophie in wenigen Kolibriflügelschlägen die Sonntagszeitungs-Headlines von den Picknicktischen lesen können.

Mitten im nächsten Gedankengang, so zwischen fusionierenden Sternschnuppen und neuer Dimension zog sie die Reißleine.

*

Das gute am Schamanen Dasein, frohlockte es im transzendenten Inneren Pascals, ist, dass er ohne Gemeinschaft nicht existieren kann. Keine Gemeinschaft - keine Schamane. Und dass er im Dienste dieser Gemeinschaft zu begreifen habe, wie die Welt funktioniert. Auch die Reale. Vor allem die Reale. Nur so kann er in der Mystischen entsprechend reagieren. Mit Geist, der mehr als nur Bewußtsein war. Geist war fähig ursächlich auf diese Welt einzuwirken. Geist war Macht. Und diese Macht wollte Pascal nutzbar machen Für sich. Für die Gemeinschaft. Für die ganze Menschheit.
Er träumte von der Macht der Harmonisierung.
Mit m´amour in deren Zentrum.

Dann rasierte Pascal mit dem rechten Fuß einen Rohziegelschlot, etwa 300 Meter westlich der Neunkirchner Allee, bekam einen massiven Seitendrall und schoss als fleischgewordenes Rotationstorpedo durch das Dach einer leerstehenden Spinnerei, in welcher er sich legere über 300 m2 verteilte.

Die wüst hochgewirbelten, jahrzehnte alten Staubpartikelchen wirbelten minutenlang im Gegenlicht der hereinbrechenden Sonnenstrahlen. Als der Staub sich gelegt hatte, fiel ein Sonnenstrahl auf das reche Handgelenk Pascals. Es lag ganz alleine und vereinsamt mit der dazugehörigen Hand auf einem Fenstersims.

Darin schlief m ´amour.

Unbeschadet.



* * *